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Brauchen wir einen radikalen Perspektivenwechsel?

  • Autorenbild: Redaktion
    Redaktion
  • 21. Juni
  • 5 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 6. Juli

Ja, unbedingt! Reflexionen zur Vereinbarung von Beruf und Familie...


Wie dieser Artikel wohl beginnen könnte? Welche Worte sind zu wählen, welches Thema zu setzen, damit alle – Männer wie Frauen – ihn lesen? Da gab es eine Zeit, in der alle Hoffnung auf diejenigen gesetzt wurde, die Väter und Mütter von Mädchen wurden. Sie könnten doch für die eigenen Töchter keine Benachteiligung wollen?


Perspektivenwechsel

Und die modernen Männer, die mit Mitschülerinnen zur Schule und Universität gegangen waren, die oft mit besseren Noten abschnitten. Sie würden doch klar einsehen, dass diese brillanten, hochqualifizierten Frauen zu wesentlichen Beiträgen berufen waren? Und doch bleibt bis heute die herausfordernde Frage bestehen, wie ein bedeutungsvolles, einflussreiches Berufsleben und ein intaktes Familienleben in Einklang zu bringen sind. Dies betrifft beide, Männer wie Frauen. Bisweilen zerreißen sich Mütter in dem Wunsch, ihren Beitrag in Beruf und Gesellschaft zu leisten und der Aufgabe gerecht zu werden, sich um die Kinder zu kümmern. Der Konflikt erscheint nach wie vor für viele gewaltig, die sogenannte Unvereinbarkeit unüberwindbar.


Zeitalter weiblicher Leitbilder

Die Baha'i-Lehren gewähren einen anderen Blick – und dieser wiederum fordert grundlegendes umdenken ein. Dass Frauen ihren Einfluss in den öffentlichen Arenen von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft einnehmen sollten, daraus machen die Schriften keinen Hehl. Gleichberechtigung und Gleichstellung der Geschlechter liegen im Kern der Baha'i-Schriften:


Im Angesicht Gottes waren Frauen und Männer von jeher gleich und werden es immer sein.
Das Universale Haus der Gerechtigkeit, Botschaft vom 2003-11-26

Schreiten Männer und Frauen gemeinsam voran, wirken sie gemeinsam, so werde „das Glück der Menschen Wirklichkeit". So hat die Gleichberechtigung im Baha'i-Sinne weniger mit Gerechtigkeit zu tun, als dass sie es sein wird, die das moralisch-psychologische Klima für Frieden sichert. Wer also von sich behaupten kann, die derzeitige Weltlage würde ihm nicht nahe gehen, möge nun weiterblättern. Für alle anderen geht es hier um ein Angebot, neu über die Dinge nachzudenken. Der Beitrag, den Frauen in der Errichtung besserer Bedingungen einzubringen haben, könnte größer nicht sein:


In der Vergangenheit wurde die Welt durch Gewalt regiert und der Mann herrschte aufgrund seiner stärkeren und mehr zum Angriff neigenden körperlichen und verstandesmäßigen Eigenschaften über die Frau. Aber schon neigt sich die Waage, Gewalt verliert ihr Gewicht und geistige Regsamkeit, Intuition und die geistigen Eigenschaften der Liebe und des Dienens, in welchen die Frau stark ist, gewinnen an Einfluss. Folglich wird das neue Zeitalter weniger männlich und mehr von den weiblichen Leitbildern durchdrungen sein, oder genauer gesagt, es wird ein Zeitalter sein, in dem die männlichen und weiblichen Elemente der Kultur besser ausgeglichen sein werden.
Baha'u'llah und das neue Zeitalter, Esslemont, S. 173

Was viele Frauen zu Recht als eine Belastung wahrnehmen ist, dass sie auf allen Ebenen der Gesellschaft wirken wollen und gleichzeitig große Verantwortung für die Kindererziehung tragen.


Der Anspruch an weibliche Teilhabe und Verantwortung

Vor große Anstrengung gestellt zu werden, und darin die Möglichkeit zu sehen zu wachsen: Tatsächlich findet sich dieser Gedanke an vielen Stellen immer wieder. So wird uns versichert, niemandem würde etwas aufgebürdet, was er oder sie nicht zu tragen imstande wäre. Oder aber es wird verdeutlicht, dass die Größe der Aufgaben, bildlich mit verschiedenen Gefäßen veranschaulicht, von Mensch zu Mensch variiere. Wie ist diese hohe Erwartung, dieser Ruf an Frauen, sich signifikant einzubringen, nun für Mütter möglich, die sich ebenso um die Erziehung ihrer Kinder kümmern müssen und wollen? Wird der Konflikt der „Unvereinbarkeit" damit nicht noch verstärkt, je höher wir den Anspruch schrauben?


In der öffentlichen Debatte stehen sich die beiden Aufgaben Beruf und Versorgung der Kinder konkurrierend gegenüber. Meist wird inzwischen ein Ausgleich geschaffen, Teilzeitarbeiten, Ganztagsschulen. Doch was löst dies? Die Antwort aus den Baha'i-Schriften ist eindeutig: Im Licht der Baha'i-Lehren ist keine andere Aufgabe wichtiger als die der Kindererziehung. Mütter werden zwar nicht als einzige, jedoch als erste Erzieherinnen hervorgehoben, und an anderer Stelle wird betont, wie wichtig die frühen Jahre eines Kindes für dessen Charakterbildung sind:


Wisset, o ihr liebenden Mütter: In den Augen Gottes ist der beste Weg, Ihn zu verherrlichen, die Erziehung der Kinder und ihre Bildung in allen Vollkommenheiten der Menschheit. Keine edlere Tat ist vorstellbar.

Was wie ein Backlash klingen mag – Mütter zurück an Heim und Herd – muss einerseits vor dem Hintergrund des geistigen Prinzips der Gleichberechtigung und andererseits eines neuen Verständnisses von Arbeit gesehen werden. Die Betonung der Kindererziehung als größter und wichtigster Betrag für die Gesellschaft stellt eine Erhöhung eben jener Aufgabe dar, keine Degradierung derer, die sie ausführen. Obwohl wir den Müttern, Vätern und allen, die mit Erziehung und Unterricht befasst sind, diese Anerkennung heutzutage verwehren.


Gehen wir davon aus, dass weibliche Qualitäten auf allen Ebenen künftig verstärkt wirken werden, von der Familie über die Gemeinschaft, in Ortschaften, Institutionen und ganzen Staaten, so lässt sich auch die Betonung der Erziehung und Ausbildung von Mädchen besonders gut nachvollziehen. Derart groß ist die Bedeutung der Kindererziehung, dass die öffentlich diskutierte Abwägung gegenüber bezahlter Arbeit im Beruf nicht ohne weiteres möglich ist.

Nach dem Baha'i-Verständnis muss hierbei jede Mutter selbst entscheiden, wie sie einerseits am besten ihrer Hauptverantwortung als Mutter nachkommen und andererseits so weit wie irgend möglich an anderen Aufgaben der Gesellschaft, der sie angehört, teilnehmen kann.


Ein neues Verständnis von Arbeit

Wie jedoch können Frauen dann ihrer Bestimmung nachkommen, zu den wichtigen Aufgaben von Frieden und Sicherheit beitragen? Arbeit ist Gottesdienst, auch diesen Paradigmenwechsel läuten die Baha'i-Lehren ein. Jede und jeder ist angehalten, den eigenen Lebensunterhalt durch Arbeit zu verdienen. Einige Berufe werden dabei besonders herausgestellt, wie etwa landwirtschaftliche Tätigkeiten, Künste und Handwerk für ihre Bedeutung im Fortbestand unserer Gesellschaft. Zusätzlich auch berufliche Felder, die friedensbildende Aufgaben erfüllen. Weiterhin gibt es die Idee einer allgemeinen Reduzierung der bezahlten Arbeit und das Modell, dass berufliche Nachteile von Müttern ausgeglichen werden. Denn arbeiten alle nur in der Zeit, in der Kinder zum Beispiel in Kindergarten oder Schule sind, stehen berufliche Verpflichtung und Kinderbetreuung nicht länger miteinander im Konflikt.


Weder für Männer noch für Frauen hat Arbeit in den Baha'i-Schriften einen Selbstzweck; die Vorstellungen von Selbstverwirklichung, der Gewinn persönlicher Genugtuung stehen weniger im Fokus. Weniger geht es darum, als Arbeitskräfte zur Verfügung zu stehen und wirtschaftlichen Gewinn zu generieren. Arbeit, jedes Wirken und Tun sind tatsächlich nach ihrem Wert für die Gemeinschaft zu bewerten. Der Gedanke des Dienstes dafür steht im Vordergrund.


Die Rolle der Männer im neuen Miteinander

Väter sind durch die Rolle der Mütter als erste Erzieherinnen freilich nicht von dieser Aufgabe befreit. Ein Vater hat seiner Pflicht zur Erziehung gleichfalls nachzukommen. Die größte Transformationsbewegung wird in der neuen Realität, die wir gemeinsam schaffen, so von den Männern abverlangt. So sind Frauen und Mädchen die Hoffnungsträgerinnen für eine friedvollere Zukunft und spielen dabei auch eine Schlüsselrolle zur Bekämpfung der Klimakrise.


Männern fällt dabei die entscheidende Aufgabe zu, Frauen darin zu bestärken, zu unterstützen. Die Schriften machen darüber hinaus durchaus einen Unterschied zwischen dem Geschlecht einerseits und den typischen weiblichen und männlichen Eigenschaften andererseits. Dabei sind es gerade die weiblichen Eigenschaften, die entscheidend für eine andere Zukunft sind und bedeutende Veränderungen herbeiführen werden. In einer Stellungnahme der Baha'i International Community heißt es:


Führungsqualitäten wie Durchsetzungsvermögen und Wettbewerbsfähigkeit, die üblicherweise mit dem Männlichen assoziiert werden, haben sich als begrenzt erwiesen, wenn sie nicht ausgeglichen werden durch Eigenschaften, die typischerweise mit dem Weiblichen assoziiert werden, wie z. B. die Bereitschaft zur Zusammenarbeit und Beteiligung sowie die Neigung zur Fürsorge und Selbstlosigkeit.

Um sich als gemeinsam Mitarbeitende, als Partner zu verstehen, erscheint es deshalb wichtig zu betonen, dass derartige als zukunftsweisend angesehene Qualitäten wie die „Neigung zur Fürsorge" oder, an anderer Stelle benannt, die „Fähigkeit zum Kompromiss", nicht den Frauen vorbehalten sind. Letztlich haben viele Strömungen im Feminismus insbesondere die Idee von Fürsorge als Eigenschaft der Frauen stets weit von sich gewiesen.


Die Bewegung, so scheint es, wird eine andere sein: gemeinsam hin zu einer neuen Idee von Menschen, die ihrer Spiritualität, ihren geistigen Wahrheiten in ihrem Leben, ihrem Handeln und täglichen Aufgaben Rechnung tragen.



Dieser Artikel entstand in Kooperation mit der Perspektivenwechsel-Redaktion.


Foto von Jan van der Wolf auf Pexels

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