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Psychologie oder Religion – Was passt besser zu mir?

  • Autorenbild: David Langness
    David Langness
  • vor 4 Tagen
  • 5 Min. Lesezeit

Anmerkung der Redaktion:

Der folgende Beitrag versucht im historischen Rückblick einen Brückenschlag zwischen zwei Gründergestalten der Psychoanalyse und der Frage, ob und welche Aspekte ihrer Lehren sich mit religiösen Elementen des Baha'i-Glaubens vertragen. Siehe hierzu auch unsere abschließende Anmerkung.


In unserer gemeinsamen Studienzeit bat ich einen Freund, mir von seiner Religion zu erzählen. Er sagte: „Psychotherapie – ich bete jede Woche am Altar von Freud und Jung.“ Ich lachte, aber später wurde mir klar, dass die moderne Psychologie Millionen von Menschen tatsächlich als eine Art Religion dient. Die Psychologie hat vielen Menschen die Religion ersetzt und Millionen nutzen sie heutzutage, um zu Selbsterkenntnis und Selbstverständnis zu gelangen. Aber nicht jeder sieht in ihr ein Allheilmittel. „Ein säkularer Kult des Selbst“, nannte ein Kritiker den zeitgenössischen Gebrauch der Psychotherapie, „der heute eher Teil des Problems des modernen Lebens als Teil seiner Lösung ist.“


Psychologie und Religion

Daher die Frage: Wie haltet ihr es mit der Religion – ist es eine tatsächliche Religion oder die Wissenschaft der Psychologie? Welche von beiden nutzen die Menschen, um ihr Selbst, ihre Psyche, ihre Seele zu erforschen? Welche von beiden erklärt die innere menschliche Wirklichkeit am besten?


Natürlich haben wir schon immer über den menschlichen Geist und das innere Selbst nachgedacht. Sokrates, Platon und Aristoteles haben Abhandlungen über das Bewusstsein geschrieben und definierten die frühe Psychologie als die Lehre von der Seele. Die großen islamischen Philosophen und Wissenschaftler Avicenna, Alhazen, Witelo und Ahmed ibn Sahl al-Balkhi identifizierten, beschrieben und behandelten die ersten neuropsychiatrischen Störungen. Während der Aufklärung entwickelten Descartes, Kant, Locke und Leibniz in ihren Büchern und Aufsätzen eine ganze Reihe psychologischer Konzepte weiter. Aber bis zum 19. Jahrhundert praktizierte niemand wirklich Psychologie oder bezeichnete sich als Psychologe.


Tatsächlich traten die eigentliche Wissenschaft der Psychologie und der Baha'i-Glaube etwa zur gleichen Zeit ins Bewusstsein der Welt, nämlich Mitte bis Ende des 19. Jahrhunderts. Als die Psychologie in den 1870er Jahren zur eigenständigen empirischen Wissenschaft wurde stieß sie auf den enormen Widerstand von Traditionalisten, der Geistlichkeit und breiten Öffentlichkeit. Dies geschah auf eine sehr ähnliche Weise wie beim Baha'i-Glauben in seinen Anfängen. Viele Menschen sahen in der Psychologie das moderne Äquivalent zur Hexerei, misstrauten ihren Motiven und lehnten ihre Ansprüche ab.


Heute jedoch, eineinhalb Jahrhunderte später, hat sich die Psychologie zumindest in der westlichen Welt fest in unserer kollektiven Denkweise verankert. Wir gestehen uns ihre Einblicke in die menschliche Psyche ein und begreifen, dass sie vielen Menschen zu einem glücklicheren und besser ausgerichteten Leben verholfen hat.


Im Verlauf der letzten hundert Jahre hat sich die Beziehung zwischen Psychologie und Religion von offener Gegnerschaft hin zu sich gegenseitig ergänzenden und manchmal sogar übereinstimmenden Weltanschauungen weiterentwickelt. Die humanistische, transpersonale und positive Psychologie betont heute das intellektuelle, emotionale und geistige Wachstum, die Verwirklichung des inneren Potenzials und die angeborene Würde jedes Menschen. Dieser ganzheitliche Denkansatz mit der Betonung auf Transzendenz und innere Werte macht uns zu vollständigeren Menschen und findet in den Baha'i-Prinzipien große Resonanz.


Viele zeitgenössische Psychologen und Psychiater haben Gedanken und Theorien entwickelt, die mit vielerlei Aspekten der Baha'i-Lehren im Einklang stehen – darunter Abraham Maslow, Carl Rogers, Rollo May, Viktor Frankl, R.D. Laing und einige andere. Einer der großen Pioniere und Denker der Psychologie, Carl Gustav Jung, scheint jedoch eine über mehrere Interessensgebiete hinweg besonders harmonisierende Sichtweise gehabt zu haben, die derjenigen der Baha'i ähnelt. Jung gilt als einer der einflussreichsten Psychologen, der sein Augenmerk insbesondere auf die psychische Gesundheit statt auf psychische Erkrankungen richtete.


Jung akzeptierte die Rolle des Glaubens und die Existenz Gottes – dies im Gegensatz zu Sigmund Freud:

Wenn man versucht, der Religion ihren Platz innerhalb der evolutionären Entwicklung des Menschen zuzuweisen, scheint sie weniger eine andauernde Errungenschaft zu sein als vielmehr eine Parallele zu der Neurose, die der zivilisierte Mensch auf seinem Weg von der Kindheit zum Erwachsenenalter durchlaufen muss.
S. Freud: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, Wien 1933, Vorlesung XXXV „Über eine Weltanschauung“

Jungs Sichtweise der menschlichen Psyche schloss demgegenüber eine starke spirituelle Komponente ein, eine theistische Psychologie, die das Suchen und Finden einer gesunden, andauernden inneren Bedeutung betonte:


Ich habe immer wieder beobachtet, dass Menschen neurotisch werden, wenn sie sich mit unzureichenden oder falschen Antworten auf die Fragen des Lebens begnügen. Sie wollen eine Position, eine Ehe, Ansehen oder äußerlichen finanziellen Erfolg erlangen, bleiben aber unglücklich und neurotisch, selbst wenn sie das Angestrebte erreicht haben. Solche Menschen sind meistens in einem zu engen geistigen Horizont gefangen. Ihr Leben hat nicht genügend Inhalt, nicht genügend Bedeutung. Wenn sie befähigt werden, sich zu einer offeneren Persönlichkeit zu entwickeln, verschwindet die Neurose in der Regel.
C. G. Jung, Autobiographies, Memories, Dreams, Reflections

Jungs Konzepte finden in den Baha'i-Lehren eine bemerkenswerte Resonanz und verwenden in einigen Fällen sogar die gleiche Sprachweise. Vergleichen Sie beispielsweise folgendes Zitat mit der obenstehenden Aussage C. G. Jungs:


Ein von Wünschen besessener Mensch ist immer voller Sorgen. Die Kinder des Reiches Gottes haben die Fesseln ihrer Wünsche abgeworfen. Zerreißt alle Ketten und sucht nach geistiger Freude und Erleuchtung. Dann werdet ihr erkennen, dass euer Blick schon auf dieser Erde die Weiten des göttlichen Horizontes wahrnimmt. … Doch der Mensch kann zum Gefangenen seiner eigenen Erfindungen werden. Seine wahre zweite Geburt erlebt er, wenn er sich von allem Materiellen befreit hat, denn nur wer nicht an seine Wünsche gefesselt ist, ist frei.

Diese kurze Betrachtung wichtiger Begründer der analytischen Psychologie im Vergleich zu der Art und Weise wie diese Einsichten in den Baha'i-Lehren angesprochen kann sicher diesem weiten Feld nicht gerecht werden.

 

Abschließende Anmerkung der Redaktion:

Psychologie und Psychotherapie haben sich in den vergangenen mehr als hundert Jahren in unterschiedliche Richtungen bewegt. Manche Ansätze konnten sich etablieren und ausdifferenzieren, andere wurden fallen gelassen. Einige von Freuds Konzepten spielen heute noch eine wesentliche Rolle, auch wenn die aktuelle Psychoanalyse wesentliche andere Aspekte menschlichen Seins hinzugefügt hat. Die Konzepte C.G. Jungs finden sich z.T. auch heute in den sog. humanistischen Therapieformen und ihrem Menschenbild wieder. In der akademischen Welt der Psychologie und Medizin bemüht man sich, der Komplexität des Menschen und seiner Behandlung gerecht zu werden. Gerade weil der Mensch keiner Maschine gleicht, ist die Erforschung der Richtigkeit und Wirksamkeit von Theorie und Behandlungspraxis anspruchsvoll, und nur ausgesuchte Verfahren halten stand. Dieser aus dem Englischen übersetzte Beitrag beleuchtet unter Berücksichtigung bestimmter Aspekte C.G. Jungs und der humanistischen Psychologie auch die Frage, ob Religion und Psychologie miteinander vereinbar sind.



David Langness ist Journalist und Literaturkritiker. Er arbeitet für das Paste Magazine und schrieb viele Jahre für bahaiteachings.org neben seiner dortigen Rolle als Chefredakteur. Er lebt mit seiner Frau Teresa in Nordkalifornien/USA.


Dieser Artikel erschien im Original auf bahaiteachings.org und wurde von der Redaktion geringfügig geändert.


Bild generiert durch GenAI


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