Die Vereinten Nationen zwischen Krise und Erneuerung
- Redaktion

- 23. Okt.
- 5 Min. Lesezeit
Eine Baha'i-Perspektive auf die Zukunft globaler Zusammenarbeit
Der vorliegende Beitrag hat zur Grundlage die umfangreichere Erklärung „Wendezeit für die Nationen - Vorschläge zum Thema Global Governance“ der Internationalen Baha'i-Gemeinde vom 1. Oktober 1995. Wenngleich sich in den letzten Jahrzehnten die globale Weltlage deutlich verändert hat, bleibt nach Einschätzung der Redaktion die Relevanz dieser Erklärung unverändert. Der Beitrag greift daher anlässlich des 80. Jahrestages der UN-Charta die wichtigsten Inhalte der Erklärung erneut auf.

Am 24. Oktober 1945 trat die Charta der Vereinten Nationen in Kraft mit dem Versprechen: Nie wieder Krieg, nie wieder ein derartig zerstörerischer Verlust an Menschenleben und Vertrauen zwischen den Völkern. Heute – 80 Jahre später – ist die Weltgemeinschaft wieder in einer tiefen Krise: Kriege wüten in mehreren Regionen, Millionen Menschen sind auf der Flucht, globale Ungleichheit wächst, und das Vertrauen in internationale Institutionen schwindet.
Trotz dieser Schwierigkeiten bleibt die Idee, die die Vereinten Nationen inspiriert hat – die Menschheit als eine Gemeinschaft – aktueller und notwendiger denn je. Diese Krise ist nicht als das Ende der multilateralen Zusammenarbeit zu sehen, sondern als Teil eines historischen Übergangsprozesses, der die Menschheit zur Reife führen kann.
Die Menschheit in einer Phase des Übergangs
Baha'u'llah, der Stifter der Baha'i-Religion, sprach schon im 19. Jahrhundert von einer künftigen Zeit, in der „die Erde eine Heimat und die Menschheit ein Volk“ sein werde. Seine Schriften beschreiben die Menschheit als einen einzigen Organismus, der – wie ein Mensch – Entwicklungsphasen durchläuft: Kindheit, Jugend und Reife.
In diesem Sinn durchlebt die Weltgemeinschaft derzeit eine stürmische „Jugendphase“ – voller Energie, Kreativität, aber auch Konflikten und Unbeständigkeit. Nationale Interessen stoßen auf globale Notwendigkeiten, alte Strukturen versuchen, neue Realitäten zu meistern. Wirtschaft, Kommunikation und Umwelt sind längst global verflochten, doch politisch und moralisch hinkt die Einheit noch hinterher.
Diese Umbruchszeit ist keine Katastrophe ohne Ziel, sondern eine Geburtsphase – eine notwendige Etappe auf dem Weg zur Vereinigung der Menschheit in einer gerechten Weltordnung. Die Frage ist nicht, ob die Menschheit zusammenwächst, sondern wie – durch Leid und Zwang oder, schmerzloser, durch rechtzeitige Einsicht und bewusste Entscheidung.
Der Ruf nach einer „Weltversammlung für globale Regierungsführung“
Die Internationale Baha'i-Gemeinde ruft seit Jahrzehnten die führenden Persönlichkeiten aller Nationen dazu auf, gemeinsam über die künftige Gestalt der internationalen Ordnung zu beraten. So wurde vorgeschlagen, einen „World Summit on Global Governance“ – eine Weltversammlung zur globalen Regierungsführung – einzuberufen (siehe bspw. der Beitrag der Baha'i International Community beim Summit of the Future).
Eine solche Versammlung könnte an die großen UN-Konferenzen der Vergangenheit anknüpfen: an Umweltgipfel, Weltsozialgipfel und weitere. Dabei zeigte sich, dass Regierungen, zivilgesellschaftliche Gruppen und Wissenschaftler durchaus gemeinsam zu neuen Einsichten gelangen können und auch Wege zu deren Umsetzung möglich sind.
Heute wäre ein solcher Gipfel dringend nötig, um die Strukturen der Weltordnung zu überdenken – nicht nur in Reaktion auf Krisen, sondern als bewussten Schritt hin zu einer neuen Phase der internationalen Zusammenarbeit.
Ein Blick zurück: Gewiss waren die Vereinten Nationen ein gewaltiger Fortschritt in der Geschichte der Menschheit. Sie schufen erstmals ein Forum, in dem nahezu alle Völker miteinander sprechen konnten. Doch die Welt von 1945 unterscheidet sich radikal von der heutigen: Damals existierten etwa 50 Staaten – heute sind es fast 200. Nichtstaatliche Akteure, globale Unternehmen und zivilgesellschaftliche Bewegungen spielen eine wachsende Rolle.
Dennoch ist die Grundstruktur der UN nahezu unverändert geblieben. Das Vetorecht im Sicherheitsrat blockiert oft entschlossene Maßnahmen; die Generalversammlung hat kaum verbindliche Entscheidungsbefugnisse; die Finanzierung bleibt unsicher und abhängig von der Zahlungsbereitschaft einzelner Staaten.
Darin muss kein Versagen einer Institution gesehen werden, sondern ein Symptom ihrer Entwicklungsphase. Institutionen – ebenso wie Individuen – müssen wachsen, lernen und sich verändern. Reformen der UN sollten daher nicht auf Schwächung, sondern auf Weiterentwicklung zielen: schrittweise, aber entschlossen.
Prinzipien einer künftigen Weltordnung
Solche Reformen müssten auf klaren Prinzipien beruhen:
Gerechtigkeit: Entscheidungen müssen transparent, unparteiisch und am Gemeinwohl orientiert sein.
Einheit in Vielfalt: Unterschiedliche Kulturen, Religionen und Systeme sollen nicht vereinheitlicht, sondern in ihrer Verschiedenheit untereinander geeinigt werden.
Dezentralisierung: Macht soll dort ausgeübt werden, wo sie am besten eingesetzt werden kann – lokal, national oder global.
Verantwortung: Staaten und Individuen müssen für ihre Handlungen gegenüber der Menschheit verantwortlich gemacht werden können.
Diese Prinzipien sollen nicht zu einem zentralisierten „Weltstaat“ führen, sondern zu einer föderalen Weltordnung, in der verschiedene Ebenen sinnvoll miteinander verknüpft sind – vergleichbar mit bestehenden föderalen Systemen auf nationaler Ebene. In den Baha'i-Schriften heißt es hierzu:
Die Einheit des Menschengeschlechts, wie sie Baha'u'llah vorausschaut, umschließt die Errichtung eines Weltgemeinwesens, in dem alle Nationen, Völker, Konfessionen und Klassen eng und dauerhaft vereint, die Autonomie seiner nationalstaatlichen Glieder sowie die persönliche Freiheit und Selbständigkeit der einzelnen Menschen, aus denen es gebildet ist, ausdrücklich und völlig gesichert sind.
Shoghi Effendi, Die Weltordnung Baha'u'llahs
Vom Ideal zur Umsetzung
Um diese Vision greifbarer zu machen, bieten sich langfristig verschiedene konkrete Reformen an:
Repräsentativere Generalversammlung: Die Skepsis gegenüber einer zu zentralisierten Regierungsgewalt könnte durch stärkere Beteiligung der Menschen der Welt selbst abgebaut werden, sodass die UN wirklich die gesamte Menschheit repräsentiert.
Verbindliche Menschenrechtsstandards: Die Mitgliedschaft von Staaten, die grundlegende Rechte ihrer Bevölkerung systematisch verletzen, sollte solange in Frage gestellt werden, bis sie sich zu Reformen verpflichten. Die Menschenrechte sind das Fundament jeder globalen Ordnung.
Stabile Finanzierung: Eine internationale Steuer oder abgestufte Pflichtbeiträge – gerecht nach Wirtschaftskraft – könnten die chronische Finanzkrise der UN beenden. Auch freiwillige Beiträge von Einzelpersonen oder Organisationen wären denkbar.
Weltweite Verständigung: Längerfristig könnte eine neutrale Welthilfssprache Missverständnisse abbauen und den Geist der Einheit fördern. Dies wäre kein Angriff auf nationale Sprachen, sondern ein Instrument gegenseitiger Verständigung.
Globale Wirtschaft und Sicherheit: Eine Weltwährung und ein System kollektiver Sicherheit könnten Stabilität schaffen. Die Einrichtung einer ständigen, unabhängigen UN-Friedenstruppe – loyal zur Menschheit, nicht nur zu einzelnen Staaten – wäre ein Schritt hin zu echter globaler Sicherheit.
Keine Weltordnung kann bestehen ohne Rechtsprechung. Der Internationale Gerichtshof sollte daher gestärkt werden – nicht nur als Symbol, sondern als echte Instanz, deren Entscheidungen für alle Mitgliedsstaaten verbindlich sind. Nur wenn die Menschheit lernt, Konflikte durch gerechte Verfahren zu lösen statt durch Gewalt, kann sie die Reife erreichen, die ihr Schicksal verlangt.
Das klassische Konzept kollektiver Sicherheit zielte darauf ab, militärische Angriffe zu verhindern. Heute müssen wir es erweitern: Auch Klimawandel, Pandemien, Hunger, Ungleichheit und Informationskriege sind Bedrohungen für das globale Gemeinwohl.
Eine gereifte UNO muss somit Instrumente entwickeln, um solche Krisen gemeinsam zu bewältigen – durch abgestimmte Maßnahmen, nicht durch nationale Alleingänge. Hier zeigt sich erneut: Kein Land kann die globalen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts allein lösen.
Fazit
Die Vorstellung einer in sich geeinten Welt in einer dauerhaften Friedensordnung ist kein utopischer Traum, vielmehr eine längerfristig zu sehende Perspektive. Ihre Bausteine sind: Eine föderale Weltregierung mit einer gewählten Volksvertretung, einer internationalen Exekutive und einem höchsten Gerichtshof. Keine Nation würde ihre kulturelle Identität verlieren – doch alle würden einen Teil ihrer Souveränität abgeben, um globale Probleme gemeinsam zu lösen.
Diese Vision stellt nicht in erster Linie Macht in den Mittelpunkt, sondern Verantwortung – Verantwortung jedes Staates gegenüber seinen Bürgern und der ganzen Menschheit.
Der Weg dorthin ist ein Prozess, kein Sprung: Über einen sicher mühsamen Prozess kann die Menschheit diesen Zustand erreichen – sei es durch Einsicht oder den Zwang der Notwendigkeit. Doch die Dauer dieses unter Umständen leidvollen Prozesses kann durch bewusste Entscheidungen verkürzt werden.
Jeder größere Fortschritt in internationaler Zusammenarbeit schien zunächst undenkbar. Heute liegt es an uns, den nächsten Schritt zu tun: den Übergang von einer Welt der konkurrierenden und kriegführenden Nationen zu einer Welt der geeinten Menschheit.
Am diesjährigen UN-Tag sollten wir uns daran erinnern, dass die Vereinten Nationen nicht bloß ein Gebäude in New York sind, sondern ein Symbol des kollektiven Willens der Menschheit. Ihre Schwächen sind Spiegel unserer eigenen Unentschlossenheit – ihre Reformen Ausdruck unserer wachsenden Reife. Wenn wir die UN nicht aufgeben, sondern schrittweise erneuern – mit Mut, Vertrauen und globalem Verantwortungsbewusstsein –, dann kann der Geist ihrer Gründung endlich Wirklichkeit werden.
Dieser Artikel wurde verfasst von der Perspektivenwechsel-Redaktion.



