Kritisches Nachdenken über die Gegenwart
Unser bisheriges Denken wird immer wieder herausgefordert, ob durch persönliche Rückschläge, Krankheit, Kriege, Krisen im Land oder die Weltlage im Ganzen. Oft heißt es: „Du musst ganz neu denken! Sonst kommst du nicht weiter.“ Stimmt das wirklich? Einige Gedanken hierzu.

Was ist überhaupt „neues Denken“?
Über individuelle Vernunft und Denken an sich wurde in der europäischen Aufklärung vor über 200 Jahren wohl genug Grundlegendes gesagt, wenngleich nicht alles. Die Entfaltung der Menschenrechte sowie wissenschaftliche Kreativität und Methodik konnten seitdem aus „kritischem Denken“ entstehen. Dabei wurde durch Generationen von Gelehrten aus vielen Disziplinen bisheriges Denken hinterfragt oder angezweifelt und versucht, es mit neuen Beobachtungen der Realität in Einklang zu bringen. So entstand und entsteht immer noch Wissenschaft und Fortschritt.
In den Baha'i-Schriften wurde bereits vor eineinhalb Jahrhunderten die hohe Stufe des Gelehrten für das Gelingen von Fortschritt und das Wohlergehen der ganzen Menschheit gewürdigt:
Der Gelehrte mit umfassendem Wissen und der Weise mit durchdringender Weisheit sind die beiden Augen am Leibe der Menschheit.
Baha'u'llah, Botschaften aus Akka
Die einst so hochgehaltene „Gelehrsamkeit“ als Quelle des Fortschritts von Wissen und Weisheit scheint aber heute in weiten Kreisen unpopulär geworden zu sein. Jahrelange akademische Mühe einzelner „gelehrter“ Köpfe, um in die Tiefen der Erkenntnis vorzudringen, gilt besonders in der jüngeren Generation als „von gestern“. Woran kann das liegen? Ist das ein speziell deutsches Phänomen, oder eben eine weltweite „Zeitenwende“?
Befragen wir doch, dem modernen Trend folgend, die Künstliche Intelligenz (KI), die beansprucht, das gebündelte Wissen der ganzen Menschheit zu erfassen. Zumindest ist sie wohl unabhängig von persönlicher Meinung. Ungeachtet dessen, dass die Meinungen generell über KI sehr unterschiedlich ausfallen. ChatGPT möge kurz antworten:
Ja, das Problem der jüngeren Generation mit dem Wort „Gelehrsamkeit“ könnte in Deutschland eine besondere Dimension haben. In der deutschen Kultur wird Bildung traditionell stark wertgeschätzt, oft mit einem Schwerpunkt auf formaler Gelehrsamkeit und intellektueller Tiefe. Dies kann bei jüngeren Generationen jedoch als elitär oder veraltet wahrgenommen werden, besonders in einer zunehmend digitalen und schnelllebigen Welt. Zudem wird heute praktisches Wissen und Kreativität häufig höher bewertet als theoretische Gelehrsamkeit.
Diese Antwort nach Sekunden klingt durchaus einleuchtend. Sicher, intellektuelle Tiefe und kritisches Denken als Theorie oder Selbstzweck genügen nicht. Es muss auch gelingen, sie in praktisches Wissen und Kreativität umzusetzen.
Die modernen Klippen des „positiven Denkens“
Zurück zur Frage eines „neuen Denkens“. Von Nordamerika aus verbreitete sich Ende des 19. Jahrhunderts eine Art Gegenströmung zum kritischen Denken unter „Think positive“, oft auch „New thought movement“ genannt: Du musst dir angewöhnen, nur positiv zu denken, wodurch du die Realität verändern kannst! Das zieht Gesundheit an, dein Einkommen und dein gesamtes Lebensglück wachsen! Einfluss hierauf übte die Begründerin der Christian Science, Mary Baker Eddy, bereits im 19. Jahrhundert mit ihrer „spirituellen Heilung“.
Zahlreiche Autoren pflegten diesen Kult des „Positiven Denkens“ weiter im 20. Jahrhundert und danach. Aktuell treibt er mit US-Stars in den sozialen Medien neue Blüten mit Millionen von „Followern“. „Glück, Geld oder die große Liebe: Alles ist möglich und für jeden erreichbar – allein durch die Kraft der Gedanken.“ (siehe dazu „Gefährliches Wunschdenken“, Tagesschau)
Nach der US-Autorin Barbara Ehrenreich („Smile or Die: Wie die Ideologie des positiven Denkens die Welt verdummt“, 2010; siehe dazu eine Buchrezension aus der Sueddeutschen Zeitung sowie einen Artikel aus ihrem Blog) und vielen anderen war das ein Mitverursacher der „Lehman-Bankenkrise“. Sinngemäß haben daraus viele abgeleitet: „Denke nur positiv, dann kannst du selbst ohne eigenes Geld ein eigenes Haus haben!“. Kredite wurden durch die hohen Risiken immer teurer und nicht mehr rückzahlbar. Berge gebündelter und bereits weltweit gehandelter Immobilienkredite dadurch wertlos. Sie erschütterten 2008 das internationale Finanzsystem. Millionen Menschen verloren ihr Zuhause und wurden arbeitslos. Einige wenige machten unvorstellbare Gewinne.
„Positives Denken“ ist nicht zu verwechseln mit positiven Gedanken, die in einem von negativen Haltungen überladenen Diskurs oft einen Weg nach vorne weisen. Die Verwirrung entsteht möglicherweise daraus, dass Gott für die Schöpfung selbst nicht „das Böse“ schlechthin vorgesehen hat. In den Baha'i-Schriften heißt es hierzu:
In der Natur der Dinge liegt nichts Böses – alles ist gut. Dies gilt auch für bestimmte tadelnswerte Eigenschaften und Anlagen, die manchen Menschen innezuwohnen scheinen, die aber in Wirklichkeit nicht verwerflich sind.
Abdu'l-Baha, Beantwortete Fragen
Das Böse ist somit als Mangel an Gutem zu verstehen und nicht Ausdruck antagonistischer Kräfte von Gott und Teufel. Es ist als Phänomen menschlicher Abgründe real erfahrbar und unserer Unvollkommenheit geschuldet. Es kann aber in jeder Phase des Lebens überwunden werden: anfangs durch Erziehung, später durch kritisches Fragen und kritisches Denken! Das durch Interessen gesteuerte „Positive Denken“ steht dem entgegen – mit gefährlichen Klippen.
Kritisches Denken und Religion
Traditionell war das Verhältnis des Christentums zu kritischem Denken ein schwieriges. Das Wort im Matthäusevangelium: „Selig die armen im Geiste, denn ihrer ist das Himmelreich.“ wurde nicht nur von den großen Philosophen Immanuel Kant (1724-1804, siehe auch Immanuel Kant – Prophet der Vernunft?) und später von Arthur Schopenhauer (1788-1860) in die Kritik genommen: Als theologisches Instrument der Förderung von Unwissenheit und Macht der Kirche über alles Weltliche.
Ein historisches Beispiel hierfür ist Galileo Galilei, der durch astronomische Beobachtung und kritisches Denken das damalige Weltbild erschütterte. Gegen seine Überzeugung, dass sich die Erde doch um die Sonne dreht, musste er 1633 widerrufen. Das rettete ihn vor dem Scheiterhaufen der kirchlichen Inquisition. Erst 1992 räumte Papst Johannes Paul II. – recht verschlüsselt – ein, die Verurteilung Galileis sei ein Fehler gewesen, der auf unzureichender Berücksichtigung des Verhältnisses von kirchlicher Lehre und Wissenschaft beruht habe.
Letztlich geht es bei den Religionen immer um das Verhältnis des Glaubens zur Gabe der Vernunft. Da die Wissenschaft als höchster Ausdruck der Vernunft immer weiter voranschreitet und auch eine ständige Weiterentwicklung der Gesellschaft bewirkt, stellt sich die Frage des Verhältnisses Glauben-Vernunft immer neu.
Eine Baha'i-Perspektive
Die zentrale Baha'i-Lehre einer gleichfalls „fortschreitenden Gottesoffenbarung“ ist eine Antwort auf diese Weiterentwicklung der Menschheit. Der Nächste ist nicht mehr nur der Mensch, dem ich begegne, vielmehr die ganze Menschheit. In einer Ansprache in Paris erwähnte Abdu'l-Baha 1911 die wichtigsten Eigenschaften des Glaubens, darunter:
Erstens, der ganzen Menschheit Mitgefühl und guten Willen zu erzeigen; Zweitens, der Menschheit Dienste zu erweisen, …
Abdu'l-Baha, Ansprachen in Paris
Mitgefühl für alle Menschen, gleich welcher Herkunft oder Religion, zählt daher heute zu einem der wichtigsten Güter des Glaubens. Es ist Voraussetzung für Frieden und Wohlergehen der ganzen Menschheit. Die Liebe zu Gott ist dabei die Quelle – von der Nächstenliebe des Evangeliums bis zur Liebe der ganzen Menschheit, die im Baha'i-Glauben die Liebe vollendet. Dieser rote Faden zieht sich als Gottesbund durch alle Religionen.
Der tief im Inneren des Menschen verankerte Glauben darf nicht im Widerspruch zu Vernunft und Denken stehen. In den Baha'i-Schriften findet sich hierzu das Gleichnis des Vogels mit den beiden Flügeln Vernunft und Glauben, oder Wissenschaft und Religion, die beide voranschreiten:
Religion und Wissenschaft sind eng miteinander verflochten und können nicht getrennt werden. Sie sind die beiden Flügel, mit denen die Menschheit fliegen muss. Ein Flügel genügt nicht. Jede Religion, die sich nicht mit Wissenschaft befasst, ist bloße Tradition und geht am Wesentlichen vorbei.
Zugleich wird für die Beschäftigung religiös orientierter Menschen mit dem modernen Gedankengut auf die Wichtigkeit nicht zu enger Grenzen hingewiesen:
Ihr Ziel sollte sein, eine Atmosphäre gegenseitigen Respekts und der Toleranz zu fördern, in der Gelehrte, deren Hauptinteresse theologischen Themenbereichen gilt, wie solche Gelehrte, die sich für eine Verbindung der durch die Bahá'í-Lehren vermittelten Erkenntnisse mit dem zeitgenössischen Gedankengut der Künste und Wissenschaften interessieren, eine Heimat finden können.
Das Universale Haus der Gerechtigkeit, Textzusammenstellungen – Gelehrsamkeit
Das „Gedankengut der Wissenschaften“ verbleibt ohne Umsetzung in die Praxis im Elfenbeinturm der Gelehrsamkeit und letztlich ohne Wirkung. Dabei auftretende Konflikte sind unvermeidbar, sie können aber mittels Beratung gelöst werden, die fortwährend in der Baha'i-Gemeinde auf allen Ebenen geübt wird. Für die Teilnehmer gilt die Forderung, dass sie
„… so miteinander beraten, dass sich kein Anlass für Unmut oder Zwietracht ergibt. Dies ist erreichbar, wenn jedes Mitglied in vollkommener Freiheit seine Meinung äußert und seine Argumente vorbringt. Es darf sich, sollte jemand widersprechen, auf keinen Fall verletzt fühlen; denn erst wenn eine Angelegenheit vollständig erörtert ist, kann sich der richtige Weg zeigen. Der zündende Funke der Wahrheit erscheint erst nach dem Zusammenprall verschiedener Meinungen.“
Abdu'l–Baha, Briefe und Botschaften
Fazit
Vernunft und Wissenschaft ermöglichen das Denken und kritische Hinterfragen der Realität. Der Glaube dient als Quelle der Kraft. Das Gleichgewicht zwischen beiden ist entscheidend.
Auf der Ebene der notwendigen Umsetzung des gewonnenen Wissens in die Praxis ist eine Kultur der Erkundung mit der Bereitschaft zum Lernen und zur Lösung von Konflikten durch Beratung unverzichtbar. Dies beginnt mit der lokalen Ebene bis hinauf zur internationalen Ebene. Die noch fast allen geläufige Losung „Global Denken und lokal Handeln“ reicht aber heute nicht mehr aus. Globales Handeln ist die maßgebliche Forderung.
Kritisches Denken kann dabei auf allen Ebenen den besten Kompass vermitteln, um in dem gewaltigen Labyrinth der modernen Welt den Weg zu weisen, der zu Wohlergehen und dauerhaftem Frieden der ganzen Menschheit führen kann. Sich hierfür einzusetzen – nicht nur für eigene Interessen – muss heute auch das Anliegen aller Religionen sein. Denn ohne den inneren Kompass des Glaubens bleibt dieses moderne Labyrinth, was es ist: ein Chaos.
Ingo Hofmann studierte Physik in München und war über drei Jahrzehnte im Raum Darmstadt-Frankfurt in der Forschung und als Hochschullehrer tätig. Er ist Vater von vier Kindern und lebt seit einigen Jahren in Potsdam, Brandenburg.
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