Ein Dialogbeitrag zu Hat die Entwicklung des Lebens ein Ziel?
Michael Merkel im Gespräch mit Eberhard von Kitzing
Frage: Evolution ist ein sehr umfangreiches und komplexes Thema. Können Sie nochmal erläutern, woran sich der Disput zwischen Kirche und Wissenschaft konkret entzündet hat? Warum wurde die Evolutionstheorie im Widerspruch zum Glauben an Gott gesehen?
Lange Zeit gab es keinen Grund, die Schöpfungsmythen, die praktisch jede Kultur entwickelte und dem damaligen Wissensstand entsprachen, infrage zu stellen. Innerhalb des jeweiligen Kulturraums gab es keine wirklichen Alternativen. Erst in der Mitte des 18. Jahrhunderts bildete sich eine ernst zu nehmende Wissenschaft der Biologie heraus. Die unbestreitbare Komplexität und Zweckmäßigkeit der zunehmend analysierten biologischen Systeme wurde als deutlicher Beweis für die Notwendigkeit eines Schöpfers gesehen (Ernst Mayr, „Entwicklung der biologischen Gedankenwelt“, 2002, S. 85–86). Zunächst standen im christlichen Kulturraum die mehr oder weniger wörtlich verstandenen Schöpfungsgeschichten des Alten Testaments nicht im Widerspruch zu den neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen in der Biologie.
Das änderte sich mit der Evolutionstheorie von Darwin und Wallace. Nach deren Theorie entsteht die Vielfalt und Zweckmäßigkeit des Lebens durch die mechanistischen Prinzipien von Variation und Selektion (Richard Dawkins: „Der blinde Uhrmacher“, dtv, München 2008). Die moderne Evolutionsbiologie bestreitet den im Alten Testament beschriebenen Ablauf der Entstehung des Lebens. Ebenfalls kommt sie ohne das direkte Eingreifen des Schöpfers bei der Entstehung und Entwicklung des Lebens aus.
Für christliche Gruppen, die auf eine mehr oder weniger wörtliche Auslegung der Schöpfungsmythen des Alten Testaments bauen, kann die moderne Evolutionsbiologie nur ein Lügengespinst sein (Denis O. Lamoureux, „Evolutionary Creation: A Christian Approach to Evolution“, Wipf & Stock 2021). Auf der anderen Seite begannen Personen mit einer materialistischen Weltanschauung die Existenz Gottes infrage zu stellen, weil nach ihrer Vorstellung ein Schöpfer weder für die Entstehung des Universums, noch für die Entwicklung des Lebens notwendig sei (Michael Ruse, „The Evolution-creation Struggle“, Harvard University Press 2005).
Als Abdu'l-Baha, der Sohn des Stifters der Baha'i-Religion, während seines Aufenthalts in Paris die Lehren seines Vaters erläuterte, formulierte er unter anderen das Prinzip „Einheit von Religion und Wissenschaft“:
Wir mögen die Wissenschaft als einen Flügel und die Religion als einen anderen Flügel betrachten. Der Vogel braucht zwei Flügel, um fliegen zu können, einer allein wäre zwecklos. Jede Form von Religion, die der Wissenschaft nicht entspricht oder sich zu ihr im Gegensatz befindet, ist gleichbedeutend mit Unwissenheit, denn Unwissenheit ist der Gegensatz von Wissen.
Abdu'l-Baha, Ansprachen in Paris
Damit setzt er einen Maßstab für die Interpretation der Baha'i-Schriften. Falls es einen scheinbaren Widerspruch zwischen den Schriften und naturwissenschaftlichen Ergebnissen gibt, hat demnach der Leser den Baha'i-Text oder auch die Ergebnisse der Naturwissenschaft nicht richtig verstanden. Wie wichtig ihm das Thema Evolution war, zeigt sich daran, dass er in dem Buch „Beantworte Fragen“ in mehreren Kapiteln die naturphilosophischen Aspekte der Evolution im Lichte der Lehren seines Vaters auslegt.
Frage: Ist die Vorstellung der „Kreationisten“ ein typisch christliches Phänomen? Beruht sie auf eindeutigen Texten aus der Bibel?
Moderne Kreationisten berufen sich mehr oder minder auf den Wortlaut der Schöpfungsgeschichte im Alten Testament. Insofern beruht ihr Glaube „auf eindeutigen Texten aus der Bibel“. Allerdings variieren die Interpretationen dieser Texte auch unter Christen erheblich. So gibt es auch Auslegungen dieser Texte, die nicht zu einem Widerspruch zur Evolutionsbiologie führen (Michael Ruse, „Can a Darwinian be a Christian?“ Cambridge University Press 2004).
Eine ähnliche Diskussion findet auch im Judentum und im Islam statt. Im Judentum fußt die Diskussion über die Entstehung und Entwicklung des Lebens auf denselben Textstellen im Alten Testament wie im Christentum. Auch im Koran gibt es Texte, die, wenn man sie wörtlich nimmt, der modernen Evolutionsbiologie widersprechen.
Frage: Es ist weit verbreitete Meinung, dass Mensch und Affe einen gemeinsamen Vorfahren haben. Wie ist denn hierzu die Faktenlage?
Die genetisch nächsten Verwandten des Menschen aus dem Tierreich sind die Schimpansen. Die Gene dieser beiden Arten stimmen zu 98,5 % überein. Das spricht dafür, dass beide Arten sich aus einem gemeinsamen Vorfahren entwickelt haben, der vermutlich vor etwa 6 Millionen Jahren lebte.
Die Annahme, dass es einen gemeinsamen Vorfahren gibt, wird auch durch Funde von Fossilien unserer Vorfahren oder deren Verwandten gestützt. Je älter die Fossilien sind, desto stärker nähert sich der Knochenbau dem der Affen.
Nach den Baha'i-Schriften hat der Mensch eine tierische und eine menschliche Seite: „Das edelste aller irdischen Wesen ist der Mensch. In ihm sind das Tier-, das Pflanzen- und das Mineralreich verwirklicht …“ (Abdu'l-Baha, Beantwortete Fragen). Sein Unterscheidungsmerkmal zum Tier ist seine vernunftbegabte Seele:
Der Geist des Menschen, der Mensch und Tier unterscheidet, ist die vernunftbegabte Seele, und diese beiden Begriffe – der Geist des Menschen und die vernunftbegabte Seele – bezeichnen ein und dasselbe.
(Abdu'l-Baha, Beantwortete Fragen).
Wächst ein Mensch ohne geistige Erziehung auf, kann er sogar auf die Stufe des Tieres zurückfallen: „… während der Mensch einem Tier gleich wird, wenn er ohne Bildung und Erziehung bleibt.“ (Abdu'l-Baha, Beantwortete Fragen).
Frage: Die Quantenphysik lehrt uns, dass es Wirkungen gibt, deren Ursprung außerhalb des Materiellen zu liegen scheint. Spielen diese Erkenntnisse in den Modellen der Biologie keine Rolle oder warum glauben so viele Biologen, die Entstehung und Evolution des Lebens könne rein materiell erklärt werden?
Prozesse, die sich nur durch die Quantenmechanik beschreiben lassen, sind in biologischen Systemen in der Regel stark lokalisiert, wie zum Beispiel die Photosynthese. Quantenmechanische Prozesse spielen sicher auch eine Rolle bei Mutationen. Mir ist aber nicht ersichtlich, wie Mutationen direkt einen wesentlich konstruktiven Beitrag zur Evolution liefern können. In den der Evolution zugrundeliegenden Prozessen ist die genetische Variation ungerichtet. Erst die Selektion gibt eine Richtung vor, es überleben bevorzugt die besser an die aktuellen Lebensbedingungen angepassten Organismen.
Als Wissenschaftler sind Biologen an die Regeln der wissenschaftlichen Forschung gebunden (siehe dazu auch: „Die Wissenschaft der Religion“). Ich denke, diese Methode schränkt die möglichen Forschungsergebnisse auf Prozesse ein, die sich materiell manifestieren, d.h., die im weitesten Sinne messbar und reproduzierbar sind. So können Wirkungen geistiger Einstellungen von Menschen auf die Gesellschaft gemessen werden, lassen aber wohl keinen zwingenden Schluss auf geistige Quellen zu.
Wie alle Menschen haben Biologen ein weites Spektrum an Weltanschauungen. So hatte Darwin starke religiöse Wurzeln (Michael Blume, „Evolution und Gottesfrage“, Verlag Herder GmbH; 2013). Es gibt unter den Biologen bekennende Kreationisten wie Michael Behe, gläubige Christen, die die Evolution vertreten wie Denis Lamoureux, Muslime wie die Biologin Fatimah Jackson oder missionierende Atheisten wie Richard Dawkins.
Eberhard von Kitzing studierte Physik in Hannover und Göttingen. Er promovierte über ein Thema der Evolution, in dem es um der Übergang von unbelebter Materie zu ersten einfachsten Lebensformen geht. Nach Forschungsarbeiten in Göttingen und Heidelberg und wechselte er in die Softwareindustrie. Er ist verheiratet, hat 6 Kinder und wohnt seit Langem in Heidelberg, Baden-Württemberg.
Bild vom Hubble Space Telescope
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