Was wäre, wenn wir unsere Regierung auf die demokratische und zugleich geistig orientierte Weise wählen würden, in der Baha'i weltweit ihre Gemeindevertreter wählen?

Die Baha'i-Religion weist ein bemerkenswertes Wahlsystem auf: ohne Parteien, ohne Kandidatenaufstellung, ohne Wahlkampf. Auf diese Weise werden auf allen Ebenen weltweit die gemeindeleitenden Gremien demokratisch gewählt – lokal, national und international. Dieser demokratische Prozess bewahrt einen Sinn für Würde und Humanität. So wird die Gemeindevertretung durch eine völlig neue, andersartige Herangehensweise gebildet.
Dieser einzigartige neue Prozess bildet die Grundlage dafür, dass „dienende Führungskräfte“ gewählt werden: Menschen, die ihre Fähigkeit bewiesen haben, sich hingebungsvoll für die Gemeinde einzusetzen – die aber nicht dazu neigen, zum eigenen Vorteil Macht auszuüben. Dies wird unter anderem dadurch gewährleistet, dass es weder Wahlkämpfe noch Kampagnen für die Wahl zum Dienst in Baha'i-Verwaltungsinstitutionen gibt. Das Kampagnenverbot gilt sehr streng. Dadurch ist es sehr unwahrscheinlich, dass jemand mit dem Bemühen, gewählt zu werden, Erfolg hat. Denn bei Baha'i-Wahlen geht es um Dienst für andere, nicht um persönliche Interessen.
1912 war in den USA ein Wahljahr. In einer Ansprache heißt es:
Der Präsident [muss jemand sein], der nicht auf der Präsidentschaft besteht. Er sollte frei vom Streben nach Rang und Namen sein; im Gegenteil, er sollte sagen: „Ich bin unwürdig und unfähig, diese Position auszufüllen und kann diese große Last nicht tragen“. Solche Menschen verdienen die Präsidentschaft. Wenn es um das öffentliche Wohl geht, muss der Präsident das Beste für alle wünschen und keine selbstsüchtige Person sein. Wenn es dagegen um das Verfolgen seiner persönlichen Interessen geht, schadet eine solche Position der Menschheit ...
Historische Ansprache Abdu'l-Bahas in „Mahmud's Diary“; redaktionelle Übersetzung aus dem Englischen
Wie also wählen Baha'i-Wähler diejenigen aus, für die sie stimmen werden? Anstatt nur ihre eigenen Bedürfnisse zu erwägen, überdenken sie einerseits die allgemeinen Bedürfnisse der Gemeinde und andererseits die persönlichen Eigenschaften der wählbaren Personen, die sie kennen. Jeder erwachsene Baha'i wird in den Baha'i-Schriften aufgefordert, Menschen zu wählen, „die am besten die notwendigen Eigenschaften fragloser Treue, selbstloser Hingabe, eines wohlgeschulten Verstandes, anerkannter Fähigkeit und reifer Erfahrung in sich zu vereinen vermögen.“
Außerdem sollen die Baha'i auf Folgendes achten:
Unter denen, die der Wähler für den Dienst geeignet hält, sollte die zu treffende Auswahl Umstände wie Altersstruktur, Vielfalt und Geschlecht sorgfältig berücksichtigen.
Baha'i-Wahlergebnisse basieren auf Stimmenmehrheit: Die neun Personen mit den meisten Stimmen bilden das Leitungsgremium. Diese Gremien heißen lokal „Örtlicher“ und landesweit „Nationaler Geistiger Rat“, sowie auf internationaler Ebene „Das Universale Haus der Gerechtigkeit“. Die Gewählten tragen die Verantwortung dafür, dass ihre Beschlüsse in gegenseitig respektvoller Beratung getroffen werden. Sie dürfen nicht stur an ihren eigenen Meinungen oder denen ihrer Wähler festhalten. In den Baha'i-Schriften heißt es:
Sie müssen in jeder Angelegenheit die Wahrheit erforschen und dürfen nicht auf ihrer eigenen Meinung bestehen; denn Starrsinn und Beharren auf der eigenen Ansicht führen schließlich zu Zank und Streit; die Wahrheit aber bleibt verborgen. Die verehrten Mitglieder müssen in aller Freiheit ihre eigenen Gedanken ausdrücken; es ist in keiner Weise erlaubt, dass einer die Gedanken des anderen herabsetzt. Nein, er muss die Wahrheit mit Augenmaß darlegen, und sollten sich Meinungsverschiedenheiten ergeben, so muss die Stimmenmehrheit gelten; alle müssen dann gehorchen und sich der Mehrheit fügen.
Abdu'l-Baha, Briefe und Botschaften
Baha'i-Wahlen unterscheiden sich also völlig von den typischen parteipolitischen Abläufen. Wer in einer Baha'i-Wahl gewählt wurde, ist nur dem eigenen Gewissen verpflichtet, nicht der Wählerschaft. Im Baha'i-Schrifttum heißt es dazu:
In dieser Haltung sieht der Gläubige im Wahlergebnis den Ausdruck des göttlichen Willens und er weiß die Gewählten primär diesem Willen verantwortlich, nicht der Wählerschaft. Eine Wahl unter solchen Voraussetzungen zeigt uns einen Aspekt der organischen Einheit zwischen der inneren und der äußeren Wirklichkeit des Lebens, die unerlässlich ist, wenn wir in diesem neuen Zeitalter eine reife Gesellschaft schaffen wollen.
Das Universale Haus der Gerechtigkeit, Freiheit und Ordnung,
In den meisten Ländern mit demokratischen Wahlen sind die Meinungen und Versprechen der Kandidaten darauf angelegt, dass die Menschen sie wählen. Aber sind die Kandidaten dann im Amt, fällt es ihnen schwer, diese Versprechen zu halten. Das liegt an den vielen gegensätzlichen Ansichten und an Entscheidungsprozessen, die viel mehr auf Konkurrenz als auf Zusammenarbeit abzielen.
Ungeachtet ihres Wohnsitzes werden Baha'i dazu ermutigt, an Parlamentswahlen teilzunehmen, wobei sie Parteipolitik nach bestem Wissen und Gewissen vermeiden sollten. In den Baha'i-Schriften heißt es: „Die Besserung der Welt kann durch reine und gute Taten, durch lobenswertes und geziemendes Verhalten erreicht werden.“
Stellt Euch eine Welt vor, in der Volksvertreter aufgrund ihrer moralischen Eigenschaften gewählt würden und nicht wegen ihrer Wahlversprechen; eine Welt, in der den Gewählten zugetraut würde, dass sie Entscheidungen zum Wohle aller treffen.
Was wäre, wenn wir die Leistungen der Kandidaten für die Gesellschaft untersuchen würden? Was wäre, wenn wir Personen wählen würden, die mit ihren Taten Gemeinschaftssinn statt Machtstreben verkörpern? Wie würden sich wohl die Dinge entwickeln, wenn wir unsere gewählten Vertreter ermutigen würden, mit ihren Kollegen die anstehenden Probleme frei und lösungsorientiert zu beraten, anstatt unverrückbar an ihren eigenen Meinungen festzuhalten? Was, wenn sie von den Sorgen um ihre Wiederwahl befreit würden – und von Sorgen bezüglich der Reaktion ihrer Wählerschaft, falls sie mit Andersdenkenden zusammenarbeiten würden?
Baha'i-Wahlen legen das zentrale Augenmerk auf die charakterlichen Eigenschaften der Führungskräfte. Außerdem befolgen alle Baha'i-Institutionen bei ihrer Arbeit die Prinzipien wahrhaft lösungsorientierter Beratung. Die Orientierung an diesen Grundlagen der Baha'i-Verwaltungsordnung kann uns zum nötigen Scharfblick verhelfen, bei allen Wahlen prinzipientreue Entscheidungen zu treffen.
Dr. med. Melanie Mouzoon hat 39 Jahre in den USA an einer Klinik als Kinderärztin gearbeitet, bevor sie 2024 in den Ruhestand ging. Sie engagiert sich auf verschiedenen Ebenen in der Jugend- und Erwachsenenbildung.
Dieser Artikel erschien im Original auf bahaiteachings.org und wurde von der Redaktion inhaltlich geringfügig angepasst.
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