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  • AutorenbildShila Behjat

Kinder versus Karriere = Konflikt?

Meiner Schwestern und mir, meinen Nichten, meinen Freundinnen und ihren Töchtern, unserer Generation steht die beste Ausbildung offen, die Frauen in der Geschichte bisher zugänglich war. In unseren Gesprächen, mal hitzig, mal erschöpft, werden wir uns dessen immer wieder bewusst. Allerdings merken wir auch: Irgendetwas stimmt nicht. Es gibt da eine Schieflage zwischen den verschiedenen Verantwortungsbereichen und diese auszugleichen macht furchtbar müde.


In den Augen Gottes ist der beste Weg, Ihn zu verherrlichen, die Erziehung der Kinder und ihre Bildung in allen Vollkommenheiten der Menschheit.

Bei unseren Müttern sah es häufig noch anders aus, bei unseren Großmüttern erst recht. Ihnen stellte sich die Frage nach der Vereinbarkeit von Familie und Beruf nur teilweise. Dass Mädchen selbstverständlich zur Schule gehen, gar studieren können, ist vergleichsweise neu. In Westdeutschland war es bis zur Eherechtsreform von 1976 (in Kraft getreten erst am 1.01.1977) einer verheirateten Frau per Gesetz verboten, ohne die Zustimmung ihres Ehemannes einen Arbeitsvertrag zu unterschreiben. Dass Frauen heute formal gleichberechtigt am Berufsleben teilhaben und Wirtschaft, Gesellschaft und Politik mitgestalten, wurde im Westen dieses Landes also erst durch die Generation unmittelbar vor uns erreicht. 


Die Baha'i-Schriften sagen dazu:  

Erst wenn die Frau in allen Bereichen menschlichen Strebens zu voller Partnerschaft willkommen geheißen wird, entsteht das moralisch-psychologische Klima, in dem sich der internationale Frieden entwickeln kann.
Das Universale Haus der Gerechtigkeit, Die Verheißung des Weltfriedens

Viele Frauen fragen sich in diesem Zusammenhang jedoch: Was ist mit den Kindern? Die öffentliche Diskussion stellt zwei Rollen spannungsgeladen einander gegenüber: Die Betreuung der Kinder als sogenannte unbezahlte Care-Arbeit einerseits. Die bezahlte Berufstätigkeit andererseits. 


Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf wird seit Jahrzehnten in der Gesellschaft genauso heftig diskutiert wie an heimischen Küchentischen. Immer wieder kämpfen Mütter mit diesem inneren Konflikt: Außer Haus bezahlt arbeiten oder zuhause unbezahlt? Für die Kinder da sein oder den eigenen Beitrag in der Arena da draußen leisten, in Wirtschaft und Gesellschaft? Also das zu tun, wozu wir modernen Frauen uns berufen fühlen? Und wenn ja, wie lange? Viele Mütter, die ich kenne, zerreißen sich deshalb geradezu, sind überzeugt, sie müssten sich für ihre Entscheidungen anderen gegenüber rechtfertigen. Dabei haben viele Frauen gar keine Wahl: Sie werden durch finanzielle Not zu einer bezahlten Berufstätigkeit gezwungen. 


In den Nachrichten ist noch allzu oft die Rede von „der ersten Frau, die“ dies oder jenes getan hat oder in diese oder jene Position gelangt ist. Aber mit jeder Sphäre, die Frauen und Männer gemeinsam gestalten, ändern sich die Bedingungen für ALLE Menschen zum Besseren.


Die Sichtbarkeit von Frauen im öffentlichen Leben und in entscheidenden Funktionen wird auch in der Baha'i-Religion als enorm wichtig angesehen. In den Lehren Baha'u'llahs hat die Ausübung eines Berufs für jede und jeden einen hohen Stellenwert. Er schreibt:

Jedem von euch ist es zur Pflicht gemacht, sich in einem Beruf – einem Handwerk, Gewerbe und dergleichen – zu betätigen. ... Beschäftigt euch mit dem, was euch und anderen nützt.

Vermögen, das durch die Ausübung eines Berufs erwirtschaftet wurde und wieder in den Wirtschaftskreislauf eingebracht wird, gilt in den Baha'i-Lehren als lobens- und erstrebenswert. Baha'u'llah bezeichnet Arbeit als eine Form des Gottesdienstes, betont aber, dass eine bestimmte Aufgabe alle anderen rangmäßig übertrifft: 

In den Augen Gottes ist der beste Weg, Ihn zu verherrlichen, die Erziehung der Kinder und ihre Bildung in allen Vollkommenheiten der Menschheit. Keine edlere Tat ist denkbar.

Der Konflikt „Kinder versus Karriere“ zerreibt meine Mitstreiterinnen und mich fast. Als Frau muss ich mich heutzutage entscheiden, denn die gesellschaftliche Realität erschwert die gleichzeitige Erfüllung beider Aufgaben ungemein. Dabei begegne ich als Baha'i zusätzlich der Herausforderung, meine verschiedenen Lebensbereiche sinnvoll zu gewichten. Das obige Zitat räumt – anders als unser Zeitgeist - der Erziehungsarbeit den Vorrang ein. Das könnte dahingehend missverstanden werden, dass Frauen wegen ihrer Gebärfähigkeit auch die alleinige Verantwortung für die Erziehung der Kinder zugewiesen bekämen und davon abgehalten werden sollten, bezahlt zu arbeiten und öffentlich zu wirken. Doch dem ist nicht so.


Die Baha'i-Lehren besagen, dass beide Bereiche, sowohl die bezahlte Arbeit als auch die Kindererziehungsarbeit, an ihrem Nutzen für die Gemeinschaft gemessen werden sollen. Diese Betrachtungsweise löst den Widerspruch auf, der scheinbar zwischen beiden Tätigkeiten besteht. Denn: Der Dienst an der Gemeinschaft stellt einen Sinn jeden Daseins dar.


Die bezahlte Berufstätigkeit ist natürlich wichtig für das Selbstwertgefühl und die Verwirklichung eigener Ziele, aber die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen an allen Lebensbereichen hat einen weit darüber hinausreichenden Zweck. Die Sichtbarkeit und Tätigkeit von Frauen in allen Bereichen kommt der Allgemeinheit zugute, weil sie das Gesellschaftsleben facettenreicher macht. Dadurch können bessere Entscheidungen gefällt werden – eine Win-Win-Situation für ALLE.


Die herausragende Bedeutung, die der Kindererziehung in den Baha'i-Schriften beigemessen wird, wertet diese Arbeit auf. Mit einer Herabsetzung von Frauen hat das nichts zu tun. Es geht um eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung, die mitzutragen als Vorrecht angesehen werden kann. Baha'u'llah betont:

Wir verordnen für alle Menschen das, was zur Erhöhung des Wortes Gottes unter Seinen Dienern führt und gleicherweise zum Fortschritt der Welt des Seins und zur Erhebung der Seelen. Der beste Weg zu diesem Ziel ist die Erziehung des Kindes.
Baha'u'llah, in: Ziele der Kinderziehung

Wir alle, Frauen, Männer, Kinder, sind Teil des Organismus „Gesellschaft“. Um die Zukunft gut meistern zu können, brauchen wir die Beiträge aller, sonst fehlen wesentliche Facetten.


Für Kinder beginnt „Gesellschaft“ mit den Erfahrungen ihrer ersten Lebensjahre. Wir alle können dazu beitragen, dass diese Erfahrungen sie zu Menschen heranwachsen lassen, die zu einer vielfältigen, offenen und gerechten Gemeinschaft beitragen.


Für Frauen kann eine vielfältige, offene und gerechte Gesellschaft mit der Befreiung aus dem Konflikt zwischen Mutterschaft und Berufstätigkeit beginnen. Wenn sie ihre individuellen Fähigkeiten dann und dort einsetzen können, wo sie die beste Wirkung entfalten, profitieren alle davon.


Für Männer kann die Teilhabe der Frauen an allen gesellschaftlichen Belangen die Befreiung aus der alleinigen Verantwortung für die Existenzsicherung und Gesellschaftsentwicklung bedeuten. Das bietet ihnen die Chance, endlich vollständig in alle Aspekten des Familienlebens eingebunden zu werden.


Gesellschaftliches und Privates sind untrennbar miteinander verknüpft, denn sie sind nur zwei Seiten des einen großen Organismus „Leben“.


Was bedeutet dies nun für meine abgekämpften Freundinnen und mich? Mein aktuelles Fazit: Wir leben in einer besonderen Zeit, die uns die vielfältigsten Wege zur Zukunftsgestaltung eröffnet. Beispielsweise, indem wir berufliche Positionen erreichen, die noch keine Frau zuvor eingenommen hat. Oder indem wir uns für die Gemeinschaft engagieren. Oder indem wir unsere Kinder zu Menschen erziehen, die wertvolle Beiträge für die Gesellschaft leisten werden. Egal welchen Weg wir wählen, ihn zu gehen führt in eine bessere Zukunft. Dieses Bewusstsein löst den scheinbaren Konflikt zwischen Kind und Karriere auf. Wir brauchen nicht mehr gegen innere Widersprüche zu kämpfen. Die Energie, die in diesen inneren Kämpfen gebunden war, kann umgenutzt werden. Zum Beispiel zum Aufbau einer vielfältigen, offenen und gerechten Gesellschaft.


 

Shila Behjat ist Journalistin und Publizistin, 1982 in eine deutsch-iranische Familie geboren. Nach dem Jura-Studium in Hamburg und Paris die Ausbildung zur Redakteurin und Tätigkeit in verschiedenen Redaktionen, u.a. in London, als freie Journalistin in Indien und schließlich als Redaktionsleiterin für ARTE. Sie ist Mutter von zwei Kindern und lebt in Berlin.


Photo von Ketut Subiyanto auf Pexels

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