Wie überwinden wir das „Überleben des Stärkeren“?
- Rodney H. Clarken
- 13. Apr.
- 4 Min. Lesezeit
Aktualisiert: vor 10 Stunden
Wenn Menschen sich für eine bestimmte Idee, ein Thema oder eine konkrete Aufgabe zusammenschließen, geraten sie damit oft in Gegensatz zu anderen Menschen, die anders denken. Jede Gruppe glaubt dann, selbst richtig zu liegen und die anderen lägen völlig falsch. Das kann sogar zu gewalttätigen Auseinandersetzungen führen.

Typisch für solche Gruppenbildungen ist, dass jede Seite sich verpflichtet fühlt, ihre eigene Sichtweise durchzusetzen. In ihrer Selbstgerechtigkeit halten sie ihre eigenen Überzeugungen für heilig und tun alles dafür, dass diese weder angefochten noch verletzt werden.
Wenn das geschieht, handeln wir Menschen nach einem Prinzip, das eigentlich niedrigeren Daseinsstufen, dem Pflanzen- und Tierreich vorbehalten ist: das Prinzip „Überleben des Stärkeren“.
Das Prinzip „Überleben des Stärkeren“ wird oft als universales Prinzip der Evolution und des Lebens verstanden. Selbst auf der Pflanzen- und Tierebene wird es eingeschränkt durch die optimale Anpassungsfähigkeit an die Umwelt. Für die Menschen jedoch ist dieses Prinzip grundsätzlich schädlich, denn Menschen haben größere Fähigkeiten und sind zu Zusammenarbeit, Mitgefühl und Liebe berufen.
Trotzdem regiert dieses Prinzip nicht nur die niedrigeren Daseinsstufen, sondern hat über lange Zeiträume auch die Menschheitsgeschichte beherrscht. Doch laut der Baha'i-Lehren ist es nicht länger nützlich für die Menschheitsentwicklung.
Baha'u'llah lehrt unter anderem die Freiheit des Menschen. Durch die Macht des Geistes soll der Mensch sich aus der Gefangenschaft in den Naturgesetzen befreien und sich von ihnen unabhängig machen. Solange der Mensch ein Gefangener der Natur ist, gleicht er einem wilden Tier, denn der Überlebenskampf gehört zu den Zwängen im Reich der Natur. Dieser Überlebenskampf ist der Urquell allen Unheils und das größte Elend.
Die Fähigkeit zu meditieren befreit den Menschen von der animalischen Natur, geht der Wirklichkeit der Dinge auf den Grund und verbindet den Menschen mit Gott. Künste und Wissenschaften bringen diese Fähigkeit aus dem Bereich des Unsichtbaren hervor. Erfindungen werden durch sie ermöglicht, gewaltige Unternehmungen ins Leben gerufen. Durch sie können Regierungen reibungslos ihren Aufgaben nachkommen. Durch diese Fähigkeit findet der Mensch Zugang zum Reiche Gottes.
Abdu'l-Baha, Ansprachen in Paris
Dieser Überlebenskampf, den die Biologen Herbert Spencer und Charles Darwin „Survival of the Fittest“ nannten, ins Deutsche gewöhnlich übersetzt als „Überleben des Stärkeren“, hat der Menschheit zu allen historischen Zeiten geschadet. Unsere Konflikte, Kriege und der Hass beweisen das zur Genüge.
Wie also können wir unsere verkrusteten Muster der Vorurteile, Uneinigkeit und Zwietracht hinter uns lassen und durch solche ersetzen, die zu Einheit, allgemeinem Wohlbefinden und Stärke führen? Laut den Baha'i-Lehren beginnt der Weg zu diesen Zielen mit der sachlichen, vorurteilslosen Untersuchung unseres eigenen Seins: Wer sind wir? Worin besteht der Sinn unseres Lebens? Wie können wir am besten zum Wohle aller zusammenleben?
Egal durch welche Brille wir es betrachten, ob durch eine wissenschaftliche, vernunftbetonte, biologische oder ethische, es ändert nichts daran, dass wir EIN Volk sind – eine einzige Menschheit. Die oberflächlichen Unterschiede, die uns so lange getrennt haben – Hautfarbe, Geburtsland, soziale Herkunft oder Glaubensbekenntnis – lassen sich nicht mehr vernünftig rechtfertigen. Sie halten keiner klugen Prüfung stand und können nicht begründet werden. Wir wissen, dass wir trotz unterschiedlicher Ansichten friedlich zusammenleben können, da das vielerorts bewiesen wurde. Trotzdem bestehen Unwissenheit und Vorurteile weiter und der Kampf um Vorherrschaft scheint sich zu verschärfen, denn engstirnige Eigeninteressen ringen um die Macht.
Die Zivilisation und die Menschheit haben sich weiterentwickelt, weil wir gelernt haben, in immer größeren und vielfältigeren Gruppen zusammenzuarbeiten. Wir sind erfolgreich durch verschiedene Stadien der gemeinschaftlichen Zusammenarbeit fortgeschritten, von anfangs kleinen, einfachen, hin zu komplizierteren sozialen und politischen Strukturen. Bis heute haben wir weltweit dadurch einen weitgehenden Zustand nationaler Einheit erreicht.
Die Baha'i-Lehren erklären uns, was wir brauchen, um das nächste Entwicklungsstadium der Zivilisation zu erreichen: Wir brauchen Welteinheit, eine weltweite Ordnungspolitik und Weltfrieden. Wir müssen Weltbürger werden.
... wenn Einheit erreicht ist, verschwinden alle anderen Probleme von selbst.
Abdu'l-Baha, Briefe und Botschaften
... eine Weltgemeinschaft, in der der Sturm eines tollkühn-militanten Nationalismus in ein dauerhaftes Bewusstsein des Weltbürgertums verwandelt ist – so wahrlich sieht ... die von Baha'u'llah vorausgeschaute Ordnung aus.
Weltfriede ist nicht nur möglich, sondern unausweichlich. Er ist die nächste Stufe in der Evolution dieses Planeten ...
Die Hinwendung zu immer größeren, alle Menschen einbeziehenden Gruppen sollte also zu einem normalen Bestandteil unseres Selbstverständnisses werden. Stattdessen beobachten wir, dass sich Menschen rückwärtsorientiert kleineren Gruppierungen mit engstirnigen, selbstsüchtigen Zielen zuwenden. Anstatt ihr Bewusstsein hin zur Einbeziehung aller Nationen und Völker zu erweitern, verengen einige Bevölkerungsteile ihr Denken und Handeln auf rivalisierende, miteinander konkurrierende Gruppen. Glaubensgemeinschaften, politische Parteien und andere soziale Gruppen zersplittern, entzweien und trennen sich. Sie schaden damit der ganzen Gesellschaft. In diesem alle gegeneinander aufbringenden Kampf um Vorherrschaft verlieren alle, selbst diejenigen, die kurzfristig wie Sieger aussehen.
Wenn eine Gesellschaft ihre Mitglieder einteilt in „wir“ und „die anderen“, wenn sie zulässt, dass das Anderssein als Makel angesehen wird und dass diejenigen, die anders sind, diskriminiert werden – dann wird Leid erzeugt und Fortschritt gehemmt. Die Energie der Menschheit wird so lange in eine allseitig zerstörerische Richtung gelenkt, bis wir lernen, das grundlegende Prinzip der Einheit in Vielfalt zu schätzen und anzuwenden. Solange wir Menschen, die sich irgendwie von uns unterscheiden, ausgrenzen, solange wir unsere wesensmäßige Einheit als menschliche Wesen nicht begreifen, werden Fortschritt, Wohlstand und Glück zugrunde gerichtet.
Dr. Rodney Clarken ist emeritierter Professor der Northern Michigan University/USA und ehemaliger Direktor der dortigen Fakultät für Erziehung. Er war außerdem Prodekan und Professer an der University of Detroit/USA und der Universität der Jungferninseln (Kleine Antillen). In über 50 Dienstjahren hat er in Afrika, Asien, Europa, Nordamerika, dem Mittleren Osten und der Karibik Menschen in ihrer Entwicklung unterstützt. Von 2012 bis 2019 hat er im Baha'i-Weltzentrum in Israel gearbeitet und ist aktuell Mitglied im Nationalen Geistigen Rat der Baha'i auf den Jungferninseln, wo er seit Jahren lebt. Er hat vier Kinder und vier Enkel. https://rodclarken.wordpress.com/
Dieser Artikel erschien im Original auf bahaiteachings.org und wurde von der Redaktion geringfügig geändert.
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