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  • AutorenbildPeter Amsler

Gehört Streiten zu unserer Natur?


Hand aufs Herz: Wann haben Sie das letzte Mal Streit gehabt, sich so richtig gestritten? Sie waren innerlich in Aufruhr, haben verletzende Sätze gesagt, die Ihr Gegenüber herabsetzen sollten, so außer sich waren Sie. Sie fühlten sich verletzt und haben andere verletzt. Oder streiten Sie eher still, schweigen und gehen Ihrem Gegenüber aus dem Weg, zeigen sich gleichgültig? Denn auch Sie wissen ja: Das Gegenteil von Liebe und Zuneigung ist nicht Hass und Feindschaft, sondern Gleichgültigkeit und Desinteresse.


Das Gegenteil von Liebe und Zuneigung ist nicht Hass und Feindschaft, sondern Gleichgültigkeit und Desinteresse

Wenn unterschiedliche Menschen aufeinandertreffen, gibt es eben Streit. So ist das und es war nie anders, mögen Sie sagen. Paare, die nicht gelernt haben, miteinander zu streiten, laufen Gefahr, bei jedem Konflikt ihre Beziehung aufs Spiel zu setzen. Politiker, die nicht lautstark ihre Interessen vertreten und es versäumen, für sich die berühmte „Beinfreiheit“ in Anspruch zu nehmen, haben einen schlechten Stand. Menschen, die sich nicht nach vorne drängeln, laufen Gefahr, unter die Räder der Aufmerksamkeitsökonomie zu kommen, wenn sie etwas zu sagen haben.


In der Sache streiten, wenigstens Kompromisse finden und Teilerfolge erzielen, etwas für sich und andere „rausholen“, dabei das Gesicht wahrend: Auch im öffentlichen Raum, in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, gehört der Streit zum Leben. Dort heißt er dann Konkurrenz, Wettbewerb oder Interessenskampf. Streit ist ein Ringen um Einfluss auf Entscheidungen, um Zugriff auf Ressourcen oder um Anerkennung, privat wie gesellschaftlich. So ist das und es war nie anders, mögen Sie sagen. Streit ist eben eine Grundkonstante von uns Menschen.


Abdu'l-Baha (1844-1921), der Sohn Baha'u'llahs und autorisierte Ausleger seiner Schriften, stellte kurz nach dem Ersten Weltkrieg in einem Brief an die Zentralorganisation für einen dauernden Frieden in Den Haag fest:

„Über einen Zeitraum von sechstausend Jahren berichtet uns die Weltgeschichte. Während dieser sechstausend Jahre war die Menschenwelt nie frei von Krieg, Streit, Mord und Blutgier. Zu jeder Zeit wurde in diesem oder jenem Land Krieg geführt.“

Ist es also naiv und gegen eine Jahrtausende alte Menschheitserfahrung gerichtet, wenn in den Schriften der Baha'i Zank und Streit nicht nur verpönt, sondern gar verboten sind und in einer Reihe mit lebensbedrohenden Handlungen genannt werden? Das ist es ja, was den Baha'i bisweilen im religionsübergreifenden Gespräch vorgehalten wird: Es muss doch möglich sein, für eine gerechte Sache zu streiten!


Schon der Vorläufer Baha'u'llahs im Persien des 19. Jahrhunderts und Stifter der sozialrevolutionären Religion des Babismus, der Bab (1819-1850), rief die schnell wachsende Zahl seiner Anhänger dazu auf, sich nicht auf Zank und eitlen Wortstreit einzulassen und nicht zu streiten, wenn jener erscheint, den Gott offenbaren wird. Und Baha'u'llah, der nach dem Glauben der Baha'i dieser Verheißene der vorangegangenen Zeiten ist, „den Gott offenbaren wird“, schrieb bereits wenige Jahre später:

Wisse, dass Wir die Herrschaft des Schwertes als Hilfe für Unsere Sache abgeschafft und an seiner Stelle die Macht eingesetzt haben, die aus der Rede des Menschen geboren ist. … Sprich: O Volk! Säe nicht die Saat der Zwietracht unter den Menschen, und stehe ab vom Streit mit deinem Nächsten

Baha'u'llah, Ährenlese


Streit, Hader und was immer der Geist des Menschen verabscheue, seien der Stufe des Menschen unwürdig. Im Gegenteil, wie Abdu'l-Baha schrieb:

Sollte jemand Streit mit euch suchen, trachtet danach, ihn zum Freunde zu gewinnen. Sollte jemand euch bis ins Innerste verletzen, seid ein heilender Balsam für seine Wunden. Sollte euch jemand verspotten und verhöhnen, begegnet ihm mit Liebe. Sollte jemand seine Schuld auf euch abwälzen, lobt ihn. Sollte er euch tödliches Gift anbieten, so gebt ihm dafür den besten Honig; und sollte er euer Leben bedrohen, so gewährt ihm eine Arznei, die ihn für immer heilen wird. Sollte er die Qual selbst sein, so seid ihr seine Medizin. Sollte er wie Dornen sein, seid ihr seine Rosen und süßen Kräuter.

Betrachten wir die Aussagen der Religionen der Welt, die je zu ihrer Zeit und in ihrer Region Einfluss auf die Kulturentwicklung der Menschen genommen haben, dann ist der Einwurf an die Baha'i, sie seien vielfach weltfremd und naiv, wenn sie sich dem gesellschaftlichen wie privaten Streit verweigern, im Kern gegen die Tradition religiösen Denkens selbst gerichtet:


Wer das Schwert nimmt, wird durch das Schwert umkommen!“, heißt es beispielsweise im Evangelium des Matthäus, und weiter: „biete die andere Wange auch dar“, oder „Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen“. Die im gleichen Evangelium zum Ausdruck kommende Goldene Regel des Jesus-Wortes

„Alles, was ihr wollt, dass euch die Leute tun, das tut ihnen auch“ findet sich vielfach in der Religionsgeschichte, so in den Gesprächen des Konfuzius, in der griechischen und römischen Antike, in Indien oder Persien:

„Was man mir nicht antun soll, will ich auch nicht anderen Menschen zufügen.“


Was für mich eine unliebe und unangenehme Sache ist, das ist auch für den anderen eine unliebe und unangenehme Sache. Was da für mich eine unliebe und unangenehme Sache ist, wie könnte ich das einem anderen aufladen?

Aus dem Buddhismus


…eins ist somit, anderen alles das nicht anzutun, was einem selbst nicht wohltut; das zweite ist, voll zu verstehen, was wohlgetan und was nicht wohlgetan ist …

Aus dem Zoroastrismus


Der Fremde, der sich bei euch aufhält, soll euch wie ein Einheimischer gelten und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid selbst Fremde in Ägypten gewesen. Ich bin der Herr, euer Gott.

Aus dem Judentum


Keiner von euch ist gläubig, solange er nicht für seinen Bruder wünscht, was er für sich selbst wünscht.

Aus dem Islam


Wenn sich die religiösen Traditionen derart äußern, woher kommt dann der Wille zum Streit? Dass wir in Streit geraten, aus menschlicher Schwäche, Unachtsamkeit, Entfremdung, – „Hand aufs Herz“ – ist geschenkt, doch warum die Ansicht, Zank und Streit seien legitime Mittel in den Aushandelsprozessen von Gesellschaft und Politik?


Hier hilft ein Blick auf die Lernerfahrungen der Menschheit, wie sie die im Vergleich zur Religion junge Disziplin der Psychologie formuliert hat. Der Wunsch nach Macht und Einfluss, nach Rechthaben und sich durchsetzen wurde vom österreichischen Arzt und Tiefenpsychologen Alfred Adler (1870-1937) in die psychologische Theorie eingeführt. Machtstreben galt dem Individualpsychologen Adler als Reaktion eines Kindes auf Erfahrungen der Machtlosigkeit und Unterlegenheit. Adler sah darin einen kompensatorischen Trieb, denn wenn ein Kind entmutigt sei, weil es fortwährend Erfahrungen der Unterlegenheit und Minderwertigkeit erlebe, könne sich sein Gemeinschaftsinteresse wenig entwickeln.


Der Mangel an Empathie und Feinfühligkeit wird heute in der Erforschung narzisstischer Persönlichkeitsstörungen ursächlich als Folge von Lieblosigkeit in der Eltern-Kind-Beziehung betrachtet. Genauso wird vermutet, dass Eltern es versäumten, dem Kind ein gesundes Maß an Frustration zuzumuten, um dadurch die natürliche Phase des kindlichen Narzissmus überwinden zu helfen. Welcher Theorie man auch immer folgt: Der Hang zu Abwertung anderer und die Betonung der eigenen Größe, zu Manipulation und Missbrauch, die unweigerlich mit Streit verbunden sind, erscheinen in der Psychologie als Symptome unausgereiften Verhaltens. Baha'u'llah schreibt in den „Verborgenen Worten“:


O Sohn des Seins! Wie konntest du deine eigenen Fehler vergessen und dich mit den Fehlern der anderen befassen? Wer solches tut, ist von Mir verworfen.

Baha'u'llah, Die Verborgenen Worte


O Sohn des Geistes! Wisse fürwahr: Wer die Menschen zur Gerechtigkeit ruft und selber frevelt, ist nicht von Mir, selbst wenn er Meinen Namen trüge.

Baha'u'llah, Die Verborgenen Worte


Betrachten wir die Menschheitsgeschichte als eine Aneinanderreihung von immer komplexeren Lernerfahrungen über das, was wir ein „gutes Leben für alle“ nennen können, dann lässt sich leicht erkennen, dass über die eingangs erwähnten sechs Jahrtausende die zivilisatorischen Resonanzräume stets größer geworden sind. Die Menschheit ist, was ihre Möglichkeiten der Konfliktlösung anbelangt, bereits reifer als noch in den vorherigen Jahrhunderten. Angriffskriege sind heute geächtet, Menschenrechtsverletzungen werden zumindest beim Namen genannt und zunehmend auch von einer entschlossenen Staatengemeinschaft sanktioniert. Narzisstische Politiker werden als solche erkannt und ihre Täuschungen haben nicht lange Bestand. Auch im Privaten wurde das „Recht des Stärkeren“ von einer Berücksichtigung der Bedürfnisse aller abgelöst. Unsere Gesellschaft kennt bei häuslicher Gewalt und Kindeswohlgefährdungen kein Pardon mehr – obgleich es diese Phänomene natürlich noch gibt. Streitende Ehepartner wissen vielfach, wo sie Beratungsmöglichkeiten abrufen können, und in Organisationen und Betrieben etabliert sich mehr und mehr eine Kultur der Streitschlichtung und Mediation.


Meine Generation ist wohl die erste, die einen nie dagewesenen Fundus an Hilfsmöglichkeiten ihr Eigen nennt, von Kursen zur gewaltfreien Kommunikation, über vorurteilsbewusstes Sprechen bis hin zu Trainings, wie wir als Eltern eine gleichwürdige Beziehung zu unseren Kindern aufbauen können. Mehr noch: Die Räume der Empathie und Feinfühligkeit erstrecken sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts nicht mehr allein über unsere Sippen, Stämme oder Völker, sondern auch über ganze Kontinente und den gesamten Globus.


Die Zeitalter der Unmündigkeit und Kindheit der Menschheit seien vorbei, schrieb Shoghi Effendi (1896-1957), der „Hüter“ der Baha'i-Gemeinde, über den Zusammenhang von Kriegen und Streitigkeiten. In seiner Schrift „Der verheißene Tag ist gekommen“ erklärte er:

Die Erschütterungen dieses stürmischen Übergangsabschnittes in der Geschichte der Menschheit sind die wesentlichen Vorbedingungen des Zeitalters der Zeitalter und kündigen sein unvermeidliches Nahen an, ‚die Zeit des Endes‘, in welcher die Torheit und die Wirrnis des Streites, die seit dem Dämmern der Geschichte die Annalen der Menschheit schwärzte, endlich in die Wahrheit und Ruhe eines ungestörten, allumfassenden und dauerhaften Friedens umgewandelt sein wird, und in welchem die Zwietracht und Trennung der Menschenkinder einer weltumschließenden Aussöhnung und einer völligen Vereinigung der verschiedenen Elemente der menschlichen Gesellschaft gewichen sein werden.

Ist es da nicht folgerichtig, dass Baha'u'llah in seinem „Heiligsten Buch“ das Streiten gar untersagt?

O Volk Bahas! Ihr seid die Dämmerorte der Liebe Gottes, die Morgenröten Seiner Gnade. Besudelt eure Zungen nicht mit Flüchen und Schmähreden gegen andere und hütet eure Augen vor Unschicklichem. Tut dar, was ihr besitzet. Wird es günstig aufgenommen, ist euer Zweck erreicht; wo nicht, ist Widerspruch fruchtlos. Überlasst diese Seele sich selbst und kehrt euch zum Herrn, dem Beschützer, dem Selbstbestehenden. Verursacht keinen Kummer, geschweige denn Zwietracht und Streit. Es ist zu hoffen, dass ihr im Schatten des Baumes Seines sanften Erbarmens wahre Erziehung erlangt und in Übereinstimmung mit dem handelt, was Gott wünscht. Ihr seid alle die Blätter eines Baumes und die Tropfen eines Meeres.

Baha'u'llah, Kitab-i-Aqdas


Ein bewährter Weg der Umgehung von Streit ist das Modell der Beratung, ein Instrument der kollektiven Entscheidungsfindung, das sowohl privat in Partnerschaften und Familien als auch auf Ebene der Gemeinde und in den verschiedenen Baha'i-Gremien angewandt wird. Alle von einer Entscheidung Betroffenen nehmen an der Entscheidungsfindung teil und sind befähigt, in einer Atmosphäre der sozialen Gleichwertigkeit ihre Perspektiven einzubringen.


In den Baha'i-Beratungen, die mit Gebeten beginnen, wird vom Gesagten und der Person, die etwas sagt, strikt getrennt: Das Gesagte gehört dem Gremium, nicht der Person, die es sagt. Dadurch gibt es keinen Grund für Gesichtsverlust und Rechthaberei, wenn das Gesagte durch die Gruppe in der Folge aufgegriffen und weiter modelliert oder verworfen wird. So reifen Entscheidungen organisch, die vom ursprünglich Gesagtem weit abweichen können, doch dafür – wie die Erfahrung zeigt – dank ihres hohen konsensualen Wertes nachhaltig sind. Sollten sich im Laufe der Zeit einzelne Gegebenheiten ändern oder sich neue Informationen zeigen, werden Beschlüsse revidiert.


Hinter den unterschiedlichen Perspektiven auf einen Sachverhalt steckt stets ein „geheimnisvoller Punkt der Einheit“: Die Wahrheit ist eins, sie äußert sich jedoch vielfältig. Um zu diesem Punkt zu gelangen, bedarf es bei allen Teilnehmenden der Tugenden Demut und Loslösung. Niemand sollte sich über einen anderen erheben. Selbstverständlich gelingt es nicht jedes Mal, auf diese Weise eine für alle befriedigende Lösung eines Konfliktes oder Sachverhalts zu finden. Doch ist es für alle Beteiligten beglückend zu erfahren, am Ende eine gute Entscheidung getroffen zu haben, die lange währt.


Vor allem im Zuge der gesellschaftlichen Großkrisen der vergangenen Jahre, zuletzt während der Gesundheitskrise mit ihren kontrovers wahrgenommenen Auswirkungen, konnte das Modell der Baha'i-Beratung helfen, trotz unterschiedlicher Auffassungen sich immer wieder neu und frisch zu begegnen und den Bedürfnissen aller weitestgehend gerecht zu werden.


Es gibt viele Gründe, die dafür sprechen, dass das Modell „Konflikt und Wettbewerb“ in Politik und Gesellschaft keine Zukunft hat. Stattdessen lernt die Menschheit, entlang von Bedürfnissen und am Gemeinwohl orientiert das Konzept „Kooperation und Kommunikation“ zu verfolgen – in den Familien, den Gemeinden wie auch in Gesellschaft und auf internationaler Ebene.


 

Peter Amsler ist gelernter Lehrer und derzeit als Erzieher und Verleger tätig. Er vertritt die Baha'i-Gemeinden in Berlin im religionsübergreifenden Gespräch. Mit seiner Familie lebt er in Berlin-Zehlendorf.



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