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  • AutorenbildMiriam Nadimi Amin

Rassismus im Alltag und in unserer Mitte


Bedenket allzeit in eurem Herzen, wie ihr erschaffen seid

Thalia berichtet:

„Wir sitzen zusammen in geselliger Runde. Alle freuen sich, dass wir uns nicht nur über den Bildschirm, sondern endlich wieder persönlich sehen. Es sind auch einige neue Gesichter dabei. Stimmengewirr erfüllt den Raum, bis wir begrüßt werden. Sehr herzlich wird das Programm vorgestellt, auf das Getränke und Snacks folgen werden. Ich freue mich auf den Abend.


Neben mir sitzt eine freundlich aussehende ältere Dame, die ich nicht kenne. Ich bitte sie flüsternd, mir das neben ihr liegende Kissen zu reichen. Sie reicht es mir mit den nicht ganz so leise geflüsterten Worten ‚Sie sprechen aber gut Deutsch!‘. Ich bin etwas perplex, nicht nur wegen ihrer Lautstärke und der Aufmerksamkeit, die das erregt, sondern weil ich nicht weiß, wie ich ihre Verwunderung einordnen soll. Dennoch lächele ich wegen des Kissens dankbar, wenn auch etwas verzerrt, zurück. Wie kommt sie darauf, dass ich kein Deutsch könnte? Ich kann es mir denken und versuche, mich wieder auf die vortragende Person zu konzentrieren.


Nachdem wir uns in interessante Texte vertieft und dazu ausgetauscht haben, wird das Buffet eröffnet, zu dem viele von uns etwas beigesteuert haben. Es ist reichlich bestückt und duftet wunderbar. Alle greifen zu. Eine Bekannte ist begeistert von meinem Auflauf. Er schmecke fantastisch. ‚Sind das afrikanische Gewürze?‘ fragt sie, ‚Aus deiner Heimat?‘ und zwinkert mir dabei zu. Immer wenn das Wort ‚afrikanisch‘ fällt, zucke ich zusammen. Sie kann nur die Chili-Flocken meinen, mit denen ich meine Kartoffeln gewürzt habe. Kommt Chili denn aus Afrika? Aus welchem Land eigentlich? Ach nee, es war Süd- und Mittelamerika. Was war jetzt nochmal mit Chili und meiner Heimat? Meine Heimat ist Deutschland. Ich versuche die verschiedenen Fragen, die innerhalb weniger Sekunden in meinem Kopf aufsprudeln, zu sortieren. Natürlich wird mir schnell klar, dass es wieder einer dieser Momente ist. Ich gehe bewusst auf meine Freundin zu, die weiter hinten am Tisch neben ihrer mitgebrachten Lasagne steht, umarme sie etwas überschwänglicher als sonst und verquatsche mich.


Beim Verabschieden und auf dem Weg zur Tür fängt mich die freundlich aussehende ältere Dame ab, der ich während des Essens etwas ausgewichen bin, denn ich ahnte schon ihre nächste Frage, die seit dem Kissen-Moment auf ihrem freundlichen Gesicht geschrieben stand. ‚Woher kommen Sie denn jetzt eigentlich?‘ Ich bin mittlerweile etwas genervt, doch möchte sie nicht verletzen also antworte ich höflich ‚aus Deutschland.‘ ‚Nein, ich meine woher kommen Sie ursprünglich?‘ setzt sie nach. Ich reiße mich zusammen und leiere ihr kurz meine Biografie runter, wie ich es schon so oft getan habe, in der Hoffnung all ihre Fragen zu beantworten und mir treu zu bleiben. Ich sei in Namibia geboren, meine Mutter sei deutsch-iranisch und mein Vater Sudanese, aber auch ein bisschen Ägyptisch-Saudi-arabisch. Nein ich spreche kein Arabisch, mein Vater habe immer nur Deutsch mit uns gesprochen. Aufgewachsen sei ich vornehmlich in Deutschland, genaugenommen in Sachsen, wohne aber jetzt in Berlin. Ich fühle mich erschöpft. Sie möchte gern noch mehr über das Leben in Namibia erfahren. ‚Wie war es denn da so?‘ Ich entschuldige mich, dass ich los muss und stürze zur Tür.


Das war irgendwie anstrengend. Zurück bleiben gemischte Gefühle, ein inspirierender Abend, viele liebe Menschen, leckeres Essen, aber eben auch Situationen, in denen ich wieder mal mein Leben erklären, darüber aufklären, mich fast schon rechtfertigen musste. Dabei hatte ich mich so auf diesen Abend gefreut. Ich bin enttäuscht. Wahrscheinlich mache ich mir etwas vor, zu glauben, ich könnte einfach so auf eine Veranstaltung gehen und annehmen, mein Aussehen, meine Hautfarbe würden keine Rolle spielen – zu glauben, ich könnte so leben wie andere auch. Ob ich nochmal hingehen werde, weiß ich gerade nicht. Wahrscheinlich schon. Es ist ja meine Gemeinde.“


Die Geschichte beschreibt Erfahrungen, die Thalia immer wieder in ihrem Leben macht. Sie könnte auch von Mona stammen. Beide sind meine Töchter, mit denen ich die Beispiele für diesen Artikel gesammelt habe. Es sind Erfahrungen die BIPoC teilen („Black, Indigenous and People of Color“: Eine Selbstbezeichnung von Menschen, die auf Grund ihrer ihnen zugeordneten Hautfarbe rassistische Erfahrungen machen.), hauptsächlich auf Grund ihrer ihnen zugeordneten Hautfarbe oder ihrer vermeintlichen Herkunft. Für den Begriff „Black Indigeneous People of Colour“ gibt es bisher keine deutsche Übersetzung, die nicht üble Erinnerungen an bereits rassistisch geprägte Wörter beschwören würde. „Daher wird die Selbstbezeichnung ‚Person of Color‘ auch im Deutschen geläufiger.


An diesem Beispiel wird hoffentlich deutlich, dass Rassismus in der Mitte unserer Gesellschaft stattfindet, so sehr wir uns auch wünschen, dem sei nicht so. Um die Einheit der Menschheit in ihrer Vielfalt zu verwirklichen, ist es notwendig, unseren Blick für Rassismus zu schärfen. Nur wenn wir uns unserer Vorurteile bewusst sind, können wir beginnen, sie abzubauen.

Hier darf sich kein Denkfehler einschleichen! Der Grundsatz der Einheit der Menschheit – der Angelpunkt, um den alle Lehren Baha'u'llahs kreisen – ist kein bloßer Ausdruck unkundiger Gefühlsseligkeit oder unklarer frommer Hoffnung. Sein Ruf ist nicht gleichbedeutend mit einer bloßen Wiedererweckung des Geistes der Brüderlichkeit und des guten Willens unter den Menschen, noch geht es nur um die Förderung harmonischer Zusammenarbeit zwischen einzelnen Völkern und Ländern. Die Folgerungen gehen tiefer, der Anspruch ist höher als alles, was den früheren Propheten zu äußern erlaubt war. … Er verlangt eine organische strukturelle Veränderung der heutigen Gesellschaft, eine Veränderung, wie sie die Welt noch nicht erlebt hat.

Das bedeutet harte Arbeit. Sich mit Rassismus zu beschäftigen kann unbequem werden. Rassismus abzubekommen, ist jedoch noch wesentlich unangenehmer. Daher lade ich die Lesenden ein, sich selbst beim Lesen zu beobachten. Kommen Schuldgefühle auf, der Drang die Wirkung des Gelesenen abzuschwächen, oder Argumente der Rechtfertigung? All das sind wertvolle Hinweise, wichtig für eine Selbstbetrachtung und Auseinandersetzung mit Rassismus. Sie bringen uns einen Schritt weiter, wenn es darum geht, über alte Denkmuster nachzudenken und sie zu überwinden.


Der Rassismus, von dem ich spreche, ist unterschwellig vorhanden und oft unbewusst. Dazu gehört beispielsweise: Die Aussprache von Menschen, die nicht „mehrheitsdeutsch“ aussehen, zu kommentieren, obwohl sie Deutsch als Erstsprache sprechen; oder einen 30.244.049 km² großen Kontinent mit 54 unabhängigen, kulturell äußerst unterschiedlichen Ländern auf ein einziges Bild zu reduzieren, indem von „afrikanisch“ gesprochen wird; oder sich auf die vermeintliche Herkunft des Gegenübers zu beziehen, nur weil ein Migrationshintergrund erkennbar ist.


Viele Probleme entstehen durch festgelegte Bilder im Kopf, wie Thalias oben geschildertes Erlebnis zeigt. Thalias Aussage, aus Deutschland zu stammen, hatte der freundlich aussehenden älteren Dame nicht ausgereicht. Sie fand: „Ganz deutsch sehen Sie ja nicht aus.“ und fuhr fort, Thalias Herkunft zu hinterfragen. So ergeht es Personen of Color immer wieder – sie machen eine Ausgrenzungserfahrung nach der anderen. Denn was hier zwar nicht ausgesprochen, aber vermittelt wird ist: „Du gehörst nicht dazu“ und „Du bist anders“. Rassismus bedient sich der Konstruktion des „anders-Seins“. Er schafft ein Inseldenken: „Wir“ und „Die“. Menschen sind jedoch gemeinschaftsorientierte Wesen, wie Soziologie und Psychologie nachgewiesen haben: Wir Menschen möchten zum „Wir“ dazugehören (vgl. „soziale Beziehung“ und z. B. Alfred Adler).


Solche Bemerkungen wie von der besagten Dame sind selten böse gemeint, im Gegenteil, sie möchten vielleicht Interesse bekunden, Aufmerksamkeit, Vorwissen oder Verbundenheit vermitteln. Vielleicht möchten Menschen damit sogar ihrer Neugier und ihrer Bewunderung Ausdruck verleihen. Bei allen guten Absichten fehlt jedoch das Verständnis dafür, wie solches Verhalten wirkt, nämlich rassistisch, und welche Auswirkungen es auf Betroffene hat.


Rassismus und seine Auswirkungen


Rassismus ist kein Empfinden einer einzelnen Person, sondern eine hochkomplexe Erscheinung im zwischenmenschlichen Leben, die von vielen wissenschaftlichen Richtungen erforscht wird. Die Soziologie bezeichnet ihn als gesellschaftliches und politisches Konstrukt:

Rassismus ist die Konstruktion des „Anderen“. „… ein Zusammenspiel aus ökonomischen, politischen und ideologischen Praktiken, durch die eine dominante Gruppe die Vorherrschaft über eine untergeordnete Gruppe ausübt.“
Stuart Hall: Rassismus als ideologischer Diskurs, 1989, in: Leah Carola Czollek/Gudrun Perko/ Heike Weinbach: Praxishandbuch Social Justice und Diversity. Theorien, Training, Methoden, Übungen. Juventa/Beltz: München/Weinheim 2012

[Rassismus ist] eine Ideologie, „die ihre Dominanz dadurch ausübt, dass sie alle gesellschaftlichen und damit menschlichen Bereiche prägt und durchdringt. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass sie zur ‚Selbstverständlichkeit‘, zum ‚Normalen‘, zum ‚Common sense‘ wird“
Phillip Cohen 1987, a.a.O.

Eine der vielen Ursachen von Rassismus hängt demnach mit dem Bestreben Mancher zusammen, sich Privilegien, also Vorrechte gegenüber anderen zu sichern. Aus diesem und anderen Gründen wurde Hautfarbe zum trennenden Faktor gemacht, obwohl das Menschengeschlecht eine organische Einheit ist.

O Menschenkinder! Wisst ihr, warum Wir euch alle aus dem gleichen Staub erschufen? Damit sich keiner über den anderen erhebe. Bedenket allzeit in eurem Herzen, wie ihr erschaffen seid ...

Wenn Rassismus ein Konstrukt, also etwas Konstruiertes, Aufgebautes ist, dann kann es dekonstruiert, also abgebaut werden. Wie aber verlernen wir rassistische Denk- und Verhaltensmuster?


Privilegien führen zum Ausschluss anderer


Wo Privilegien, also besondere Rechte für die einen vorhanden sind, werden andere benachteiligt. Jede Medaille hat zwei Seiten. Ein berühmtes Beispiel bot Rosa Parks: Am 1. Dezember 1955 wurde die Afroamerikanerin in Montgomery/Alabama (USA) festgenommen, weil sie ihren Sitzplatz vorne im Bus nicht für einen weißen Fahrgast räumen wollte. Die Rassentrennung in diesem südlichen US-Staat schrieb damals vor, dass die vorderen Sitzplätze weißen Fahrgästen vorbehalten waren, während Personen of Color nur hinten sitzen durften..


Hier und jetzt äußert sich alltäglicher Rassismus beispielsweise darin, auf Grund der zugeordneten Hautfarbe, eines sichtbaren religiösen Merkmals oder des Namens auf dem Arbeitsmarkt oder bei der Wohnungssuche öfter abgelehnt zu werden. Personen of Color werden häufiger zu einer Polizei- oder Sicherheitskontrolle herausgewunken, während Menschen mit mehrheitsdeutschem Aussehen einen Vertrauensvorschuss genießen. In diesem Zusammenhang frage ich mich auch, warum die Täterherkunft in Nachrichten über Kriminalität erwähnenswert ist: Eine nicht-deutsche Herkunft wird betont, eine deutsche scheint in diesem Zusammenhang dagegen uninteressant. Das sind nur einige von vielen Beispielen, die zeigen, wie ungleich gesellschaftliche Macht, Anerkennung, Teilhabe und Vertrauen verteilt sind.

Rassismus ist eine tiefgreifende Abirrung vom Standard wahrer Moral. Er beraubt einen Teil der Menschheit der Möglichkeit, die ganze Bandbreite der eigenen Fähigkeiten zu kultivieren und zum Ausdruck zu bringen und ein sinnvolles und blühendes Leben zu führen, gleichzeitig wird der Fortschritt der übrigen Menschheit behindert. Er kann nicht durch Konkurrenz und Kampf ausgerottet werden. An seine Stelle muss die Schaffung gerechter Beziehungen zwischen Einzelpersonen, Gemeinden und Institutionen der Gesellschaft treten, durch die alle aufgebaut werden und niemand als „anders“ bezeichnet wird. Der erforderliche Wandel ist nicht nur auf sozialem und wirtschaftlichem Gebiet vonnöten, sondern vor allem in moralischer und geistiger Hinsicht.
Das Universale Haus der Gerechtigkeit, Botschaft vom 2020-07-22 zu rassistischen Vorurteilen und dem besonderen Beitrag der Baha'i-Gemeinde der USA zu deren Abschaffung

Eigene Normvorstellungen und Stereotype – Nachdenken über eigene Vorurteile


Meiner Ansicht nach beginnt alles mit unseren Normvorstellungen und „Bildern im Kopf“, die wir beispielsweise durch Bilderbücher und Erzählungen als Kind gespeichert haben. Später verfestigen sich diese Vorstellungen, weil wir sie in Medien oder Bildern oder der Art und Weise wiederentdecken, in der über Menschen gesprochen wird. Unser Sprachhandeln wiederholt die unbewusst gespeicherten Bilder zusätzlich. Sobald Verallgemeinerungen über vermeintliche Menschengruppen mit negativen Bewertungen zusammengebracht werden, entstehen rassistische Vorurteile.

… das Vorurteil in seinen verschiedenen Formen [zerstört] das Gebäude der Menschheit. Der Gottesbote beschwört uns, alle Formen von Vorurteil aus unserem Leben zu verbannen.

Augen, Herz und Ohren auf


Nur selten geben Menschen, die gerade einen rassistischen Spruch abbekommen, sofort eine Rückmeldung, setzen sich zur Wehr oder protestieren. Zu schnell sind die Momente verflogen, man möchte die Harmonie nicht stören oder ist noch ganz benommen von den vielen Eindrücken und Emotionen, die solche Sprüche auslösen. Es fällt oft zu schwer, sofort eine passende Antwort zu formulieren. Deshalb erfordert es eine gute Beobachtungsgabe und Einfühlungsvermögen auf der anderen Seite, um wahrzunehmen, wie das Geäußerte wirkt. Nachfragen hilft. Und dann ist Zuhören ganz wichtig, aktives Zuhören ohne sich zu rechtfertigen oder die Wirkung abschwächen zu wollen.


Wenn ich meine jugendlichen Töchter frage, was sie sich wünschen, antworten sie: „Dass mehr Menschen darauf achten, dass es einem gut geht; dass Fragen mit mehr Bedacht gestellt werden; dass sich Leute vorher überlegen, was sie eigentlich wissen wollen, bevor sie fragen.“ Sie wünschen sich ein Ende der Kommentare über ihre Herkunft, die ihnen das Gefühl geben, sie seien „anders“. Sie wünschen sich, dass Menschen mit der eigenen Neugier klarkommen, ohne ihnen gegenüber jede Vermutung über sie auszusprechen. Sie wünschen sich Menschen, die in solchen Situationen einschreiten, die helfen, so etwas aufzulösen und die sie unterstützen, wenn sie mal keine Worte finden.

„Lasst keinen glauben, dass ein solches Problem leicht oder sofort gelöst werden könnte.“ „Jede sollte sich bemühen, den anderen zum wechselseitigen Fortschritt zu verhelfen und sie dabei zu unterstützen“, erklärte Abdu'l-Baha. „Liebe und Einheit werden unter euch gepflegt werden und so die Einheit der Menschheit hervorbringen.”
Das Universale Haus der Gerechtigkeit, Botschaft vom 2020-07-22 zu rassistischen Vorurteilen und dem besonderen Beitrag der Baha'i-Gemeinde der USA zu deren Abschaffung

 

Miriam Nadimi Amin ist Mutter von vier Kindern und lebt in Leipzig. Ihre Kindheit verbrachte sie in Namibia. Sie studierte Erwachsenenbildung und Kommunikationswissenschaften und hat eine Zusatzausbildung in Konfliktmanagement/ Mediation. Als Diversity Trainerin und Konfliktcoach begleitet sie Organisationen, pädagogische Teams, Firmen und Verwaltungen die sich mit diskriminierungskritischer Diversität auseinandersetzen und entwickelt mit ihnen interpersonelle, strukturelle und sprachsensible Maßnahmen gegen Diskriminierung und Rassismus.


Photo von Hannah Busing auf Unsplash

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