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Nahrungsmittelkrisen gemeinschaftlich und ökologisch überwinden (2/2)

  • Autorenbild: Babak Farrokhzad
    Babak Farrokhzad
  • 2. Mai
  • 6 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 18. Mai

Dieser Beitrag ist eine Fortsetzung der Artikelserie zu „Nahrungsmittelkrisen gemeinschaftlich und ökologisch überwinden“, Link zu Teil 1


Der erste Teil des Beitrags über das historische Adasiyyah hat gezeigt, wie ein heruntergewirtschafteter Landstrich im zerfallenden Osmanischen Reich erfolgreich bewirtschaftet und stabile Marktzugänge und Lieferketten geschaffen werden konnten. Dadurch wurden nicht nur die Bauern dieses Dorfmodells wirtschaftlich erfolgreich. Auch die arabische und jüdische Bevölkerung in Haifa und Umgebung konnte während einer schweren Versorgungskrise vor einer drohenden Nahrungsmittelknappheit bewahrt werden, indem dank nachhaltigen Wirtschaftens Lebensmittel aus Adasiyyah in das städtische Gebiet geliefert wurden.


Der zweite Teil dieses Beitrags geht der Frage nach, ob es sich beim Modell Adasiyyah um einen Einzelfall handelt, oder ob Baha'i-inspirierte Gemeinschaften an anderen Orten ebenfalls ähnliche Erfolge erzielen konnten. Dafür werden zwei Beispiele aus dem Iran und Kolumbien beleuchtet und die dahinterstehenden Erfolgsprinzipien vorgestellt.


Ökonomie muss den Menschen dienen, nicht umgekehrt. Der Mensch braucht Nahrung, Kleidung, Unterkunft und eine gesunde natürliche Umgebung genauso wie Wertschätzung, Zuneigung, Verbundenheit, Gerechtigkeit, Solidarität und Sinnhaftigkeit.


Nachhaltige, soziale, wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung entsteht, wenn die Wirtschaftsordnung Menschen, Unternehmen und Staat ermöglicht, materielle und geistige Aspekte mit ihrem ökonomischen Handeln zu verbinden oder sie gar zu integrieren.


Dadurch können Menschen über die Sicherung ihrer materiellen Eigenständigkeit hinaus zusätzliche Kompetenzen entwickeln, Solidarität lernen und sich Wissen aneignen. Zudem können sie auch neues Wissen schaffen, um Herausforderungen schneller zu erkennen, zu verstehen und Lösungen zu finden. Eine solche Wirtschaftsordnung baut Ungerechtigkeit durch innere Mechanismen ab und ist weniger auf Eingriffe staatlicher oder religiöser Institutionen angewiesen. Sie verbindet moralische, spirituelle und materielle Entwicklung und fördert sowohl materiellen als auch geistigen Fortschritt.


Dies macht es erforderlich, Rahmenbedingungen zu schaffen, damit sich

Menschen an das halten, was unnötige Mühe und Anstrengung vermindert, damit sie ihre Tage in geziemender Weise verbringen und zu Ende führen

Dass dies möglich ist, haben die Baha'i von Anbeginn der Entstehung ihres Glaubens in zahlreichen erfolgreichen Initiativen weltweit demonstriert.

Drei dieser Initiativen sind besonders beachtenswert:


Saysan (Iran)

Im 19. Jahrhundert führte das Wirken des ersten Baha'i in der Region um Saysan zu einer lebendigen religiösen Gemeinschaft, die ihre wirtschaftliche und soziale Entwicklung in die eigenen Hände nahm.


Ein wesentlicher Schritt war die Etablierung einer Institution mit Ratsmitgliedern und Beratungsmethoden als Entscheidungsfindung. Die Gruppe dieser Menschen wurde zuerst ernannt, später von der Gemeinschaft gewählt. Ihre offene, auf Konsens ausgerichtete Entscheidungsfindung ermöglichte es, soziale Herausforderungen gemeinschaftlich anzugehen, etwa Konfliktlösungen, Landtransaktionen oder Erschließung neuer Einnahmequellen für die Dorfgemeinschaft. Dieses Gremium, genannt „Geistiger Rat“, entwickelte eine hohe Glaubwürdigkeit, sodass sich muslimische Bauern aus der Umgebung an ihn wandten, um ihre Streitigkeiten zu klären.


Im Bildungsbereich war der Aufbau von Schulen ein zentrales Anliegen. Zunächst wurde ein traditionelles Unterrichtsmodell eingeführt, bei dem Kinder unterschiedlichen Alters gemeinsam lernten – wie es damals in ländlichen Gebieten üblich war –, das später in eine moderne Schule mit Jahrgangsklassen und getrenntem Unterricht für Mädchen und Jungen überführt wurde. Dank engagierter Lehrkräfte und ihrer Unterrichtsmethoden gelang es, immer mehr Kinder und sogar Jugendliche aus umliegenden Dörfern zu unterrichten. Diese Alphabetisierung und Bildung förderten nicht nur den Zusammenhalt im Dorf, sondern eröffneten den Einwohnern auch wirtschaftliche Perspektiven über die traditionelle Landwirtschaft hinaus.


Trotz der starken ökonomischen Basis und der hohen Resilienz dieses gemeinschaftlichen Erfolgsmodells führte die staatliche Verfolgung, angestachelt durch die schiitische Geistlichkeit, schlussendlich zum Ende dieser Entwicklung in den 1970er Jahren. Die Schließung der Baha'i-Schule auf Druck der Behörden und die gleichzeitige Öffnung einer staatlichen Schule im Dorf schwächte das autonome Bildungs- und Sozialwesen der Baha'i erheblich. Der Bildungsstandard sank, viele bislang eigenständige Aktivitäten versandeten. Infolgedessen verließen viele junge Menschen das Dorf und suchten in den umliegenden Städten bessere Ausbildungs- und Berufsmöglichkeiten.


Zwar existierte die dörfliche Gemeinschaft der Baha'i Saysans weiterhin, doch verlor ihre bis dahin öffentlich wahrnehmbare Entwicklungsinitiative an Dynamik. Systematische ethnische Säuberungen, verbunden mit der Zerstörung von Häusern und Geschäften der Baha'i im Auftrag der Islamischen Republik Iran, vertrieben die Baha'i schließlich ganz aus der Gegend.


Norte del Cauca (Kolumbien)

In diesem Beispiel verfolgten einige Professoren und Baha'i der Universidad del Norte einen umfassenden und systemischen Ansatz. Statt eine einzelne Wachstumsinitiative in einem Dorf umzusetzen, konzipierten sie ein ökonomisch und ingenieurwissenschaftlich fundiertes Ausbildungssystem, mit dem sie die Menschen in vielen Dörfern ausbilden und befähigen konnten. Dieses System war auf alltagspraktische Fragestellungen der Landbevölkerung zugeschnitten und zielte darauf ab, den Menschen genau die wissenschaftlichen Erkenntnisse zu vermitteln, die sie brauchen, um ihre landwirtschaftlichen Probleme zu lösen, statt sie nur allgemein wissenschaftlich auszubilden. Gleichzeitig fokussierte sich das Entwicklungsprogramm auf die Steigerung des Bewusstseins für soziale Verantwortung bei den Teilnehmenden.


Das Pilotprojekt wurde zunächst in der Gegend um Norte del Cauca eingeführt. Auf anfängliche Erfolge folgte die Anerkennung durch staatliche Stellen Kolumbiens. Im Laufe der Zeit entstanden etliche wissenschaftlich orientierte Untersuchungen, die die Erfolge insbesondere im Bereich verbesserter sozialer Verantwortung unter den Teilnehmenden belegten. Bei diesem dynamisch gestalteten, praxisorientierten Ausbildungsprogramm ging es vornehmlich darum, dass die Teilnehmenden aus den Lernerfahrungen selbst neues Wissen generieren, um bestehende Herausforderungen zu lösen. Es ging weniger darum, möglichst viel Wissen auf formalisierte Art und Weise zu vermitteln.


Dieses Konzept einer „Rural University“ von FUNDAEC („Fundación para la Aplicación y Enseñanza de las Ciencias“, dt. „Stiftung für die Anwendung und Vermittlung der Wissenschaften“) berücksichtigt sowohl die materielle als auch die spirituelle Natur des Menschen. Die Vorgehensweise setzt auf ein Gleichgewicht zwischen moderner Technik und traditionellen Wissensformen. So wird ein Umfeld geschaffen, in dem beide Paradigmen zusammenwirken, um nachhaltige Entwicklungsprozesse aus der Gemeinschaft heraus entstehen zu lassen. Alle Bereiche des ländlichen Lebens – von Produktion und Vermarktung über Gesundheitsversorgung bis hin zu politischer Teilhabe – werden abgedeckt. In den Baha'i-Schriften heißt es hierzu:


Ich möchte euch klar machen, dass materieller und geistiger Fortschritt zwei sehr verschiedene Dinge sind, und dass nur dann, wenn der materielle Fortschritt mit Geistigkeit Hand in Hand geht, wirklicher Fortschritt kommen und der größte Friede in der Welt regieren kann
Abdu'l-Baha, Ansprachen in Paris

Lokale Nahrungsmittelproduktion
FUNDAEC ermutigt lokale Nahrungsmittelproduktion (Quelle: Fostering self-sufficiency, Baha‘i World News Service)

1987 wurde auf dieser Grundlage das „System for Tutorial Learning SAT“ (dt. „System für Tutoren-geleitetes Lernen“, auch „Ruhi-Kurse“ genannt) in Kolumbien eingeführt. Dieses dynamisch immer wieder überarbeitete und erweiterte Lernprogramm wurde bis 1996 in 13 der 32 Departements Kolumbiens genutzt. Dieser Ansatz bremste nachweislich die Landflucht, förderte demokratisches Handeln sowie Geschlechtergerechtigkeit und stärkt bis heute die öffentliche wie private Zusammenarbeit der Akteurinnen und Akteure. Das System basiert auf interaktiven Arbeitsheften und ortsansässigen Tutorinnen und Tutoren, die die Unterrichtszeiten flexibel gestalten. Der Lehrplan ist speziell auf die Bedürfnisse im ländlichen Raum zugeschnitten und vermittelt vor allem praktische Fähigkeiten, statt rein theoretischem Wissen.


Stärken dieses besonderen Ansatzes zur sozio-ökonomischen Entwicklung

Die geschilderten Beispiele aus völlig unterschiedlichen Gegenden auf dem asiatischen und lateinamerikanischen Kontinent zeigen, dass es möglich ist, entlang der Prinzipien der Baha'i-Lehre Initiativen zur sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung erfolgreich umzusetzen. Der Baha'i-inspirierte Ansatz baut auf Menschen als mündige Partner, die sich Wissen aneignen und dabei ihre Kenntnisse und Erfahrungen eigenverantwortlich zur Lösung ihrer Probleme einsetzen.

  • Er stärkt bewusst soziale Bande und Verantwortung, indem er die Fähigkeit zur Fürsorge füreinander gezielt fördert

  • entwickelt die Gemeinschaft zu einer lernenden Organisation, die dank ihrer Innovationskultur neue Wege zu Wohlstand und Weiterentwicklung findet

  • lernt Fehler oder Fehlentscheidungen zu korrigieren.


Weltweit fördern so verschiedene Projekte Eigeninitiative, Wissen und geistige Stärke – ein Schlüssel für erfolgreiche und nachhaltige Entwicklung. Die wichtigsten Instrumente dieser Lern- und Innovationskultur sind

  • gemeinschaftliche Entscheidungsfindung, in der Baha'i-Terminologie „Beratung“ genannt

  • der Fokus auf eine wissenschaftlich fundierte und ebenso praxisorientierte Ausbildung, die gleichzeitig die der Natur des Menschen zugrunde liegenden geistigen Prinzipien berücksichtigt

  • das Streben nach einer Balance zwischen der materiellen und der geistig-moralischen Dimension menschlichen Handelns.


Fazit

In den geschilderten Beispielen wird den Betroffenen vor Ort zugetraut, als mündige Partner selbst ihre Aufgaben zu bewältigen und Probleme zu lösen. Dies gelingt ihnen, indem sie systematisch durch gemeinschaftliches Beraten den Erfahrungsschatz der Beteiligten mit relevanten wissenschaftlichen Erkenntnissen kombinieren. Da die Akteurinnen und Akteure in den Programmen zunächst mit der Entwicklung der Fähigkeiten der Teilnehmenden beginnen, können diese Initiativen mit geringeren Anfangsinvestitionen auskommen. Auch im Verlauf der Projektarbeit können Risiken gemindert werden, die eine erfolgreiche Erreichung der Ziele gefährden könnten. Die Erfahrung hat gezeigt, dass neben der Minderung negativer Faktoren auch positivere Entwicklungen zunahmen, z. B. dass Investitionen in der Regel effizienter zum Einsatz kommen als in sonst üblichen konventionellen staatlich geförderten Programmen.


Eine empirische Untersuchung dieser Baha'i-inspirierten Entwicklungsinitiativen könnte neue Erkenntnisse über den Zusammenhang von Bildung, lokaler Teilhabe, nachhaltigem ökonomischem Fortschritt und Wertschaffung liefern. Sie würde auch helfen, das Bruttoinlandsprodukt als rein quantitativen Indikator für den Wohlstand um weitere Größen zu ergänzen.


Gelebte Religiosität – nicht formale Religionszugehörigkeit – kann Einfluss auf Innovationskultur und Wohlstand nehmen. Bereits Max Weber (1864-1920) verwies mit seiner Theorie der protestantischen Ethik auf diesen Zusammenhang. Der iranische Religionshistoriker und Baha'i Abu'l-Fadl Gulpaygani präzisierte dies 1892, indem er zwischen weltoffenen, innovationsfördernden Offenbarungsreligionen und dogmatischen, innovationshemmenden Traditionen unterschied (zu beiden siehe „Religion als Innovation“).


Dies wäre nicht nur aus bildungsökonomischer und wirtschaftswissenschaftlicher Perspektive interessant, sondern könnte auch neue Impulse für die Gestaltung effizienter und effektiver Entwicklungsprogramme geben.


Die Dringlichkeit zu handeln beschreibt das höchste Gremium der internationalen Baha'i-Gemeinde. Es bezieht sich besonders auf die Mündigkeit und die Potenziale von Gemeinschaften mit ihrem Bewusstsein für konkrete Erfordernisse und Lösungen:


Die Menschheit ist es überdrüssig, weiterhin ein Verhaltensmuster zu entbehren, nach dem sie streben soll; wir vertrauen auf Sie, dass Sie Gemeinden fördern, deren Lebensweisen der Welt Hoffnung geben werden.
Universales Haus der Gerechtigkeit, Ridvan Botschaft 2012


Babak Farrokhzad (Dr.-Ing.), langjährig tätig in Innovationsmanagement bei führenden europäischen Technologieunternehmen. Veröffentlichungen zu Innovations- und Portfoliomanagement, sowie zu Baha'u'llahs Buch der Gewissheit, Untersuchungen zum Einfluss von Religion auf Innovation in einer Münchener Baha'i-Studiengruppe.

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