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  • AutorenbildMarkus Mediger

Was ist ein „moderner“ Mensch?

Es begann mit einer Gruppe Studierender, die uns für eine Studienarbeit befragten zu dem Thema: „Sind die Baha'i eine zukunftsorientierte Religion? Die Rolle von Technik, Moderne und Modernität“ (siehe Referenz) . Die Studierenden führten dazu persönliche Gespräche mit uns Baha'i-Gemeindemitgliedern und ließen uns Fragebögen ausfüllen.


Ruhestätte von Abdu'l-Baha in der Nähe von Haifa, Israel

Nach einigen Fragen zu unserem Gemeindeleben, das in den letzten beiden Jahren überwiegend virtuell stattgefunden hatte, kam sinngemäß die Frage: „Wie stellt ihr euch den modernen Menschen aus Sicht der Baha'i vor?“


Da musste ich erst mal „Luft holen“ und drüber nachdenken: Wie stelle ich mir eigentlich den „modernen Menschen“ vor? Und gibt es einen Unterschied zum sogenannten „modernen Baha'i-Menschen“? Gott sei Dank waren wir bei dem Gespräch zu zweit, das verschaffte mir Zeit zum Überlegen. Meiner Interview-Partnerin kam spontan in den Sinn: Abdu'l-Baha, der älteste Sohn Baha'u'llahs, des Stifters der Baha'i-Religion, hat uns die Ideale des Baha'i-Glaubens vorgelebt. 1852 bis 1908, also den größten Teil seines Lebens von 1844 bis 1921, verbrachte er in Exil und Gefangenschaft, war aber trotz aller Widrigkeiten seiner Zeit weit voraus. Seine Schriften und die Ansprachen, die er 1910-1913 während seiner Reisen in den Westen hielt, zeigen das; nachzulesen in Büchern wie „Ansprachen in Paris“ oder „Abdu'l-Baha in London“.


Abdu'l-Baha, der älteste Sohn Baha'u'llahs
Abdu'l-Baha in Paris im Oktober 1911 (colorisiert)

Schon damals rief er die Menschen zur Erneuerung der Religion und zum Aufbau einer neuen Zivilisation auf, basierend auf den Prinzipien Frieden, Gerechtigkeit und Einheit. Obwohl er vielen Elementen der damals modernen westlichen Zivilisation, wie etwa elektrischer Beleuchtung, dem Telegraphen, dem Automobil, Hochhäusern oder Untergrundbahnen kaum begegnet war, wusste er doch um die Tücke, die eine Modernität ohne ethische Basis, ohne Frieden, Gerechtigkeit und Einheit birgt. Trotz der im Orient vorherrschenden konservativen Denkweisen war er bestens vertraut mit zeitgenössischen Vorgängen in westlichen Gesellschaften. Er kannte die Debatten um demokratische politische Beteiligung, das Frauenstimmrecht, allgemeine Schulpflicht, soziale Wohlfahrt oder scheinbar widersprüchliche Aussagen von Wissenschaft und Religion, um nur einige zu nennen. Zahlreiche Menschen konnte er daher durch seine Gedanken inspirieren (siehe dazu auch Abdu'l-Baha's Encounter with Modernity during His Western Travels, Wendi Momen).


Auszug aus einer Ansprache zum Verhältnis von Wissenschaft und Religion:


(…) Stünde die Religion im Gegensatz zur logischen Vernunft, so würde sie aufhören, Religion zu sein und wäre lediglich Überlieferung. Religion und Wissenschaft sind die beiden Flügel, auf denen sich die menschliche Geisteskraft zur Höhe erheben und mit denen die menschliche Seele Fortschritte machen kann. Mit einem Flügel allein kann man unmöglich fliegen: Wenn jemand, versuchen wollte, nur mit dem Flügel der Religion zu fliegen, so würde er rasch in den Sumpf des Aberglaubens stürzen, während er andererseits nur mit dem Flügel der Wissenschaft auch keinen Fortschritt machen, sondern in den hoffnungslosen Morast des Materialismus fallen würde.
Abdu'l-Baha, Ansprachen in Paris

Ferner betonte Abdu'l-Baha in seinen Ansprachen und Briefen grundlegende soziale Prinzipien wie die Gleichberechtigung von Mann und Frau, die Einführung einer Weltsprache oder die Abschaffung der Extreme von Reichtum und Armut. Vielfach gab er auch konkrete Hinweise zum Erreichen dieser Ziele. Er erklärte, dass eingefahrene Lösungswege durch neue ersetzt werden müssen und dass Gott dafür den Menschen die Fähigkeit gegeben hat, unabhängig von altbekannten Denkweisen nach Wahrheit zu suchen.


Könnten diese damals revolutionären Ausführungen nicht auch heute noch die moderne Gesellschaft inspirieren?


Ist es nicht sogar neben den allseits bekannten modernen Errungenschaften in Wissenschaft und Technik gerade das „moderne Mindset“ bezüglich Wertediskussion, Mitmenschlichkeit und Sinnsuche, das die wichtigste Grundlage einer modernen Gesellschaft ausmacht?


Shoghi Effendi, der Enkel Abdu'l-Bahas, hat ebenfalls erhellende Beiträge zum Thema geliefert. Das Hauptmotiv eines seiner Werke ist die Einheit der Menschheit – eine Einheit unter Wahrung der persönlichen Freiheit jedes Einzelnen:


Die Einheit des Menschengeschlechts, wie sie Baha'u'llah vorausschaut, umschließt die Begründung eines Weltgemeinwesens, in welchem alle Nationen, Rassen, Glaubensbekenntnisse und Klassen eng und dauerhaft vereint, die Autonomie seiner nationalstaatlichen Glieder sowie die persönliche Freiheit und Selbständigkeit der einzelnen Menschen, aus denen es gebildet ist, ausdrücklich und völlig gesichert sind.

Während dieser allmählichen Entwicklung hin zu einer Einheit der Menschheit bildet sich nach und nach ein neues Bewusstsein unserer Identität als Weltbürger und mit der Zeit wird eine Weltzivilisation mit einer Weltkultur entstehen:


Das Hervortreten einer Weltgemeinschaft, das Bewusstsein des Weltbürgertums, die Begründung einer Weltzivilisation und Weltkultur (…) sollten ihrer wahren Natur nach, was das Leben auf diesem Planeten anbelangt, als die äußersten Grenzen für die Organisation der menschlichen Gesellschaft angesehen werden, wenngleich der Mensch als Einzelwesen im Ergebnis dieser Vollendung unbegrenzt weiter fortschreiten, sich weiter entwickeln wird und muss.

Abgeleitet davon wäre also ein moderner Mensch jemand, der dieses Bewusstsein einer zukünftigen Weltgesellschaft so gut wie möglich im Zusammenleben mit anderen umsetzt und dadurch zum Fortschritt der Gesellschaft beiträgt. Entsprechend könnte man Abdu'l-Baha als Modell eines wirklich modernen Menschen bezeichnen – obwohl er bereits vor hundert Jahren gestorben ist.


P. S.: Die besonderen Eigenschaften Abdu'l-Bahas haben übrigens das außergewöhnliche Design seines Grabmals inspiriert, das sich aktuell (Anfang 2022) im Bau befindet. Der Architekt Hossein Amanat beschreibt das Konzept dieses harmonisch in die Umgebung eingebetteten Gebäudes:


Dieses Gebäude soll anders sein als alle anderen. Es soll Abdu'l-Bahas Selbstlosigkeit, Weisheit, Offenheit, Akzeptanz und Freundlichkeit gegenüber allen Menschen zum Ausdruck bringen, seine Liebe zu Gärten und Natur verkörpern und seinen fortschrittlichen und zukunftsorientierten Ansatz widerspiegeln. (...)

Abdu'l-Baha war ein moderner Mensch. Er war ein Vorbote des Neuen – seine Worte waren neu, die Lehren seines Vaters, die er verkündete, waren neu, und er rief die Menschheit zu einer neuen Art von Beziehungen auf. Dieses Gebäude soll all das widerspiegeln.
Hossein Amanat anlässlich der Entwurfsvorstellung


 

Markus Mediger lebt in Nürnberg, studierte Physik an der RWTH Aachen und ist beruflich im Technologiesektor tätig.


Referenzen

Universität Bayreuth, Fakultät für Biologie, Chemie und Geowissenschaften, Institut für Geographie. Seminar zur Humangeographie: Religionsgeographie.

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