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  • AutorenbildIngo Hofmann

Krieg in Europa – und jetzt?


Die Nachricht wirkt wie ein Schock. Am Morgen des 24. Februar 2022 höre ich, dass die Ukraine von ihrem übermächtigen Nachbarn Russland großflächig militärisch angegriffen wird. Der Gedanke an das Leid so vieler Menschen im Krieg löst Entsetzen aus. Hunderttausende sind bereits auf der Flucht.


Das Wohlergehen der Menschheit, ihr Friede und ihre Sicherheit sind unerreichbar, sofern nicht und ehe nicht ihre Einheit fest begründet ist

Völkerrechtler erheben den Vorwurf des schweren Völkerrechtsbruchs durch den Angreifer. Dies, so heißt es, ist das Ende der bisher geltenden Sicherheitsordnung in Europa. In dieser Zeit der Not demonstrieren Abertausende bei uns und weltweit für ein sofortiges Ende der Militärmaßnahmen, andere versammeln sich in ihren Gemeinden zu solidarischem Gebet oder planen konkrete humanitäre Hilfsaktionen für die Ukraine.


Krieg im 21. Jahrhundert gegen ein souveränes Land in Europa schien den meisten Menschen hierzulande bis vor kurzem unwahrscheinlich. Zugegeben: Von „wahrscheinlich“ oder „unwahrscheinlich“ sprechen wir meist dann, wenn wir die Hintergründe und Motive, die zu einem solchen Ereignis führen, nicht ausreichend kennen. Erst die Tatsache des Angriffs zeigte unsere Fehleinschätzung, zugleich aber auch die enttäuschte Hoffnung vieler, mich eingeschlossen, die glaubten, der Erhalt des Friedens sei allen wichtig genug.


In solchen Augenblicken haben die meisten Menschen mehr Fragen als Antworten. Haben wir etwas falsch gemacht? Wie lange wird die derzeitige Finsternis in Europa andauern? Was kommt danach?


Die Politik in vielen Ländern, auch bei uns, antwortet mit Aufrüstung. Dabei ist die Rede von einer „Zeitenwende“. Um ehrlich zu sein: Ich fand diese Antwort nicht wirklich überraschend, denn in solchen Zeiten gewinnt häufig die militärische Logik mit dem Ziel, vor weiteren Kriegshandlungen abzuschrecken. Aber unter einer echten Zeitenwende hätte ich mir etwas Anderes vorgestellt als nur Aufrüstung.


1989 lösten nach dem Ende des Kalten Krieges die vieldiskutierten Thesen des US-amerikanischen Politikwissenschaftlers Francis Fukuyama die Hoffnung aus, dass die Menschheit nun ein neues, „goldenes“ Zeitalter erleben wird, in der sie durch das alternativlose Zusammenspiel von Kapitalismus, globalem Markt und freiheitlicher Demokratie ihre Bedürfnisse für alle Zukunft befriedigen könne. Woran scheiterte diese Erwartung? War sie von vornherein zu utopisch, oder stand sie im Widerspruch zu dem vorherrschenden Menschenbild? Das Universale Hause der Gerechtigkeit, die höchste Körperschaft des Baha'i-Glaubens, schrieb hierzu 1985 in einer Botschaft angesichts des für 1986 von der UNO ausgerufenen Jahres des Friedens:

Aggression und Konflikt sind tatsächlich in solchem Ausmaß zu Kennzeichen unserer gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und religiösen Systeme geworden, dass viele der Ansicht verfielen, derartiges Verhalten sei ein Wesensmerkmal des Menschen und deshalb unausrottbar.
Mit der Verfestigung dieser Ansicht ergab sich ein lähmender Widerspruch: Einerseits verkünden Menschen aller Völker nicht nur ihre Bereitschaft, sondern ihre Sehnsucht nach Frieden und Eintracht, nach einem Ende der quälenden Furcht, die ihr tägliches Leben peinigt. Andererseits findet die These unkritische Zustimmung, der Mensch sei unverbesserlich selbstsüchtig, aggressiv und deshalb unfähig, eine Gesellschaftsordnung zu errichten, die zugleich fortschrittlich und friedlich, dynamisch und harmonisch ist, eine Ordnung, die der individuellen Kreativität und Initiative freien Lauf lässt, aber auf Zusammenarbeit und Gegenseitigkeit beruht.
Das Universale Haus der Gerechtigkeit, Die Verheißung des Weltfriedens

War dieser „lähmende Widerspruch“ der tiefere Grund, warum alle bisherigen Versuche scheiterten, nach dem Zerfall der Sowjetunion eine gemeinsame Friedensordnung zu errichten, die den Sicherheitsbedürfnissen aller Beteiligten entspricht? Erinnern wir uns an die Worte Baha'u'llahs, des Stifters der Baha'i-Religion, wonach Frieden und Sicherheit nur als gemeinsames Unternehmen – in geeinter Absicht – möglich sind:

Das Wohlergehen der Menschheit, ihr Friede und ihre Sicherheit sind unerreichbar, sofern nicht und ehe nicht ihre Einheit fest begründet ist.

Eine Sicherheitspolitik, der es nur um die eigene Sicherheit geht, hat demnach wenig Aussicht auf nachhaltigen Erfolg. Die globale Verflechtung der Menschheit über mehrere Einflusszonen hinweg erfordert gewaltige Anstrengungen einer weltumspannenden Friedenssicherung, die gerade in der augenblicklichen Situation nicht länger auf sich warten lassen dürfen.


Wie kann es sein, dass einige visionäre Köpfe ernsthaft daran arbeiten, bereits in den nächsten Jahrzehnten den Mars zu kolonisieren, wir aber angeblich unfähig sind, auf dieser Erde „eine Gesellschaftsordnung zu errichten, die zugleich fortschrittlich und friedlich“ (s. o.) ist?


Noch aktueller: Woher nehmen wir nur die Zuversicht, das 1,5 Grad-Ziel des Pariser Klimaabkommens einhalten zu können, wenn es uns nicht gelingt, eine ausreichende Grundlage für eine weltweite Kooperation zu schaffen? Gerade in diesen Tagen erfahren wir – ganz nebenbei – aus dem neuesten Bericht des Weltklimarates, dass bis zum Ende dieses Jahrzehnts Entscheidendes passieren müsse, denn 2030 schließt sich das Zeitfenster zur Einhaltung dieses für den Planeten überlebenswichtigen Ziels.


Ob globale Friedenssicherung, Klimakrise oder soziale Gerechtigkeit: Sie alle erfordern Einigkeit über gemeinsame Werte und darüber, dass sie die zentralen Menschheitsaufgaben sind, die nur gemeinsam – durch lösungsorientierte Verhandlungen aller Beteiligten auf Augenhöhe – und unter Verzicht auf Gewaltandrohung angegangen werden können. Das wäre eine echte globale Zeitenwende!


 

Ingo Hofmann studierte Physik in München und war über drei Jahrzehnte im Raum Darmstadt-Frankfurt in der Forschung und als Hochschullehrer tätig. Er ist Vater von vier Kindern und lebt seit einigen Jahren in Potsdam, Brandenburg.


Photo von Humphrey Muleba auf Unsplash

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