Nach dem Ende von Corona wieder ein „normales“ Leben führen zu können ist ein Wunsch der meisten Menschen. In welche Richtung soll aber die „Normalität“ führen, wenn ich für einige Augenblicke meinen Alltag hinter mir lasse und über den Zustand unserer Welt unabhängig von der Pandemie nachdenke?
Gehört zur „Normalität“ die Sehnsucht, das Gefühl der Ohnmacht gegenüber einer stets gegenwärtigen Gefahr loszuwerden? Oder die Freiheit tun zu können, was ich tun möchte? Mir nahestehende Menschen besuchen, oder einfach nur in meinem Lieblingscafé sitzen? Ist das alles, oder sollten wir nicht eher die Frage stellen, was denn vor Corona zwar „normal“ schien, aber weit davon entfernt war, eine erstrebenswerte „Normalität“ zu sein?
Die Pandemie, die unser Leben regelrecht aus den Angeln hob, führte uns zum Nachdenken darüber, dass große Epidemien wie Pest und Cholera nicht weniger zur Geschichte der Menschheit gehören und nicht weniger Leid zurückließen als alle Kriege zusammen. Wer wusste bis vor Kurzem schon, dass die Spanische Grippe am Ende des Ersten Weltkriegs mehr Todesopfer forderte als der Krieg selbst? Oder dass die in ganz Europa und darüber hinaus schrecklich wütende Pest des 14. Jahrhunderts – der „Schwarze Tod“ – nach den Schilderungen des berühmten italienischen Dichters Boccaccio bereits uns wohl bekannte und damals genauso wie heute unbeliebte Maßnahmen wie Ausgangssperren und generellen „Lockdown“ erforderte, aber auch behördliche Lebensmittelversorgung oder Steuerstopps.
Epidemien gerieten immer weit schneller in Vergessenheit als Kriege – die Sehnsucht nach „Normalität“ setzte sich danach wieder schnell bei den meisten Menschen durch. Kriege blieben hingegen im kollektiven Gedächtnis der Menschheit über alle Zeitalter hinweg haften – als angeblich unvermeidbarer Teil der Geschichte. Gemeinsam hatten beide allerdings, dass es immer die Schwachen und weniger Privilegierten waren, die am meisten darunter litten. Hieran hat sich bis heute nicht viel geändert.
Unsere globale Verantwortung
Kann die von allen erhoffte „Normalität“ nach der Pandemie ihrem Namen gerecht werden, wenn wir uns damit begnügen, in „der Welt danach“ nur die gewohnten Freiheiten wiederzuerlangen? Hat die weltweite Krise durch Corona nicht wie ein Vergrößerungsglas die schon bekannten, dramatischen Schlagseiten der gegenwärtigen Lage aufgezeigt? Beispiel nationaler Egoismus: „Unser Land zuerst“ wurde laut hörbar, obwohl die längst erkannten globalen Ausbreitungsrisiken die Pandemie zum weltweiten Problem und eine Lösung „zuerst hier“ zur Illusion machten.
In einer Botschaft des Universalen Hauses der Gerechtigkeit, der höchsten Körperschaft des Baha’i-Glaubens, aus dem Jahr 1985 wird im Zusammenhang mit der Gefährdung des Weltfriedens darauf hingewiesen, dass eine grundlegende Richtungsänderung kommen muss. Dies ist heute genauso aktuell:
Ein ungezügelter Nationalismus – im Unterschied zu einem gesunden, legitimen Patriotismus – muss einer umfassenderen Loyalität Platz machen: der Liebe zur Menschheit als Ganzem. Baha’u’llahs Erklärung lautet: 'Die Erde ist nur ein Land, und alle Menschen sind seine Bürger.' Der Gedanke der Weltbürgerschaft ist das unmittelbare Ergebnis davon, dass die Welt durch den wissenschaftlichen Fortschritt und die unbestreitbare wechselseitige Abhängigkeit der Staaten auf eine einzige Nachbarschaft geschrumpft ist. Die Liebe zu allen Völkern der Welt schließt die Liebe zum eigenen Land nicht aus. In der Weltgesellschaft wird der Nutzen eines Teils am besten dadurch gewahrt, dass der Nutzen des Ganzen gefördert wird.
Das Universale Haus der Gerechtigkeit, Die Verheissung des Weltfriedens
2017 schrieb das Universale Hauses der Gerechtigkeit zum Thema „Wirtschaft“, dass in unserer zunehmend vernetzten Welt die tatsächlichen gesellschaftlichen Verhältnisse und Lebensbedingungen aller Völker immer deutlicher sichtbar werden. Trotz manch hoffnungerweckender Entwicklungen sollte doch vieles schwer auf dem Gewissen der Menschheit lasten. Der Zusammenhang zwischen einer überwiegend konsum- und gewinnorientierten Wirtschaft, dem Mangel an sozialem Fortschritt und der Zerstörung der Natur muss uns beunruhigen:
Das Wohlergehen jedes einzelnen Segments der Menschheit ist mit dem Wohlergehen des Ganzen untrennbar verbunden. Die Menschheit als Ganze leidet, wenn eine Gruppe nur an ihr eigenes Wohlergehen denkt, losgelöst von dem ihrer Nachbarn, oder wenn sie nach wirtschaftlichem Gewinn strebt ohne Rücksicht auf Folgen für die Natur, die Lebensgrundlage aller. Bedeutender sozialer Fortschritt wird so hartnäckig blockiert: Immer wieder setzen sich Habgier und Eigennutz auf Kosten des Allgemeinwohls durch. Hemmungslos wird exzessiver Reichtum zusammengerafft, und die so geschaffene Instabilität wird dadurch verstärkt, dass Einkommen und Chancen innerhalb wie zwischen den Nationen derart ungleich verteilt sind.
Das Universale Haus der Gerechtigkeit, Wirtschaftsleben
In der gegenwärtigen Situation lernen wir, dass überall Grenzen überschritten werden – bis hin zur Zerstörung der Lebensräume von Tieren, wodurch Seuchenausbreitung begünstigt wird. Gleichzeitig müssen wir erkennen, dass wir alles andere als autonome Herrscher über diese Welt sind, trotz eines gewaltigen wissenschaftlich-technischen Fortschritts. Ich befürchte jedoch, dass wir in der „Normalität“ des Alltags diese Einsicht immer wieder vergessen.
Die Vision einer Menschheit
Aus Baha'i-Sicht gibt es keinen ausreichenden Grund, angesichts der gegenwärtigen, durchaus bedrückenden Verhältnisse in Hoffnungslosigkeit oder Gleichgültigkeit zu verfallen. Die zentrale Lehre Baha'u'llahs von der „Einheit der Menschheit“ beinhaltet die Vision, dass die ganze Menschheit zu einem einzigen Organismus zusammenwächst. Das gemeinsame Wohl der Menschheit dabei im Blick zu haben ist der geistig-spirituelle Kompass, der unserem Denken und vor allem unseren Handlungen eine neue Richtung geben kann. Er hilft uns bei allen bevorstehenden Herausforderungen, seien es Klimawandel und Erhalt der Biodiversität oder die wachsende soziale Ungleichheit oder andere Probleme. Die Baha'i sind davon überzeugt, dass dieser Kompass eine weit bessere Alternative ist, als eine durch Aussichtslosigkeit motivierte Rückkehr zu den bisherigen Lebensgewohnheiten – der „gewohnten Normalität“.
Im September 2020 beeindruckte der UN Generalsekretär Antonio Guterres viele mit der These, dass die Beherrschung von Covid-19 eine Generalprobe für kommende Herausforderungen sei. Eine Art Lernlabor für die ganze Menschheit, in dem wir Erfahrungen sammeln, wie eine weltumspannende Krise durch gemeinsame Anstrengungen beherrscht werden kann. Ein kollektives Lernen, das uns hilft, beispielsweise den vermutlich noch weit folgenschwereren Fall einer Klimakatastrophe bis zur Mitte dieses Jahrhunderts abzuwenden. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse über den menschengemachten Klimawandel und seine Auswirkungen reichen längst aus, um geeignete Vorsorge zu treffen. Bei der Pandemie dagegen war das zu Beginn kaum der Fall – wir alle wurden von ihr überrascht.
Das Lernen aus Fehlern ist eine der wichtigsten Voraussetzungen für die menschliche Entwicklung. So ist das Laufenlernen nur möglich, wenn aus dem Hinfallen gelernt wird: Dann kann das Wiederaufstehen die Muskeln stärken, die Erfahrung aus dem Hinfallen zu einem verbesserten Ansatz führen und auf einen neuen Weg weisen. Insofern übernehmen wir Verantwortung für die ganze Menschheit, wenn wir aus Erfahrungen lernen und in Zukunft besser handeln. Für diese Art des Lernens erleben wir mitten in der – hoffentlich – auslaufenden Pandemie eine Generalprobe, an der ALLE Menschen auf ihre Art teilnehmen können, keinesfalls nur die Politik-Verantwortlichen. Im Zusammenhang mit dem Thema „Klimawandel“ wies das Universale Hauses der Gerechtigkeit im Jahr 2017 auf eine ermutigende Tatsache hin:
Doch auch wenn die öffentliche Debatte mancherorts eine aufgeladene politische Komponente hat, ist der Umstand viel bemerkenswerter, dass in einer Zeit, in der die Nationen Schwierigkeiten haben, bei vielen wichtigen Fragen zu einer Einigung zu gelangen, die Regierungen fast aller Staaten der Erde mit dem Pariser Klimaschutzabkommen eine politische Übereinkunft über einen gemeinsamen Handlungsrahmen erzielt haben, um auf den Klimawandel in einer Weise zu reagieren, die sich im Laufe der Zeit mit zunehmender Erfahrung weiterentwickeln soll.
Das Universale Haus der Gerechtigkeit, Klimawandel
Eine ausreichende Reaktion auf den Klimawandel ist nicht nur eine politische und ökonomische oder technisch-wissenschaftliche Aufgabe. Sie ist eine geistig-spirituelle Herausforderung, die sich auch an die Religionen richtet. Diese können wichtige Beiträge für eine nachhaltige Zukunft der Menschheit leisten und haben das beim Thema „Klima“ auch bewiesen. Allerdings stehen theologisch verwurzelte Gegensätze oder Interessenskonflikte und mangelnde Einigkeit in grundlegenden Menschheits- und Zukunftsfragen auch hier im Weg und erschweren eine wirksame Zusammenarbeit. Bereits 1911 erklärte Abdu'l-Baha, der Sohn Baha'u'llahs und autorisierte Ausleger seiner Schriften, in einer in Paris gehaltenen Ansprache:
Wenn die Religion, befreit von Aberglauben, Überlieferungen und unverständlichen Dogmen, ihre Übereinstimmung mit der Wissenschaft dartut, so wird eine große einigende, reinigende Kraft in der Welt sein, die alle Kriege, Uneinigkeiten, Missklänge und Streitigkeiten vor sich her kehrt und dann wird die Menschheit in der Macht der Gottesliebe vereinigt werden.
Abdu'l-Baha, Ansprachen in Paris
Auch wenn sich die großen Religionen dieser Welt in dem zurückliegenden Jahrhundert deutlich aufeinander zubewegt haben, liegt dieses Ziel noch in der Ferne. Auf dem Weg dorthin lernen wir aber durch jede Krise dazu und damit rückt das Ziel näher. Vor allem, wenn wir unseren geistig-spirituellen Kompass dazu nutzen, nach Krisen nicht wieder in die „gewohnte Normalität“ zurückzufallen, sondern uns in Richtung einer nachhaltigen, „ZUKUNFTSFÄHIGEN NORMALITÄT“ für die ganze Menschheit zu bewegen.
Ingo Hofmann studierte Physik in München und war über drei Jahrzehnte im Raum Darmstadt-Frankfurt in der Forschung und als Hochschullehrer tätig. Er ist Vater von vier Kindern und lebt seit einigen Jahren in Potsdam, Brandenburg.
Foto von Jamie Street auf Unsplash
Comments