top of page
  • AutorenbildFriedemann Landsberg

Trennung – Meine Trauer

Alles an diesem Morgen fühlte sich unwirklich an. Das Licht des Sonnenaufgangs, hellblau links der Autobahn, rechts das Grau der verschwindenden Nacht. Auf dem Weg zum Flughafen Nachrichten aus dem Radio über Luftangriffe Russlands auf die Ukraine. Wie auf Autopilot fuhr ich meine Familie zu ihrem Flieger, der sie weit weg von mir bringen sollte – unübersehbares Zeichen der Trennung.


Steh mir bei in meiner Einsamkeit und sei mit mir in meiner Verbannung

Diese Trennung schwebte schon lange über uns und ich verspürte eine gewisse Erleichterung, als das Damoklesschwert endlich fiel. Freunde hatten mich vor den Auswirkungen gewarnt, ich wollte aber nur die guten Seiten sehen. Lösung der Spannungen und Bewegung hinaus aus dem Zustand der gegenseitigen Blockade. Ich war jedoch nicht vorbereitet auf die Wucht der stillen Wohnung, vertraute Straßen und Plätze, die sich fremd anfühlten, die Einsamkeit in einer Menge von feiernden, fröhlichen Freunden. Tätigkeiten, die vorher meine Batterien aufluden, wurden zum Energiekiller. Ein Song im Radio zum kalten Griff ans Herz, unvermittelt die Stimmung herunter regelnd.


Hilfreich waren neue Routinen, eine neue Ernährungsweise, Achtsamkeitsübungen, Gebete, Sport. Aber nur an guten Tagen. Die Trauer ist wie ein Pendel, das unkontrolliert zwischen In-mir-Sein und Neben-mir-Stehen hin und her schwingt. In dunklen Momenten wurden aus diesen Freudebringern mechanische Rituale, die die Überlebensfunktionen des Körpers am Laufen hielten, der Psyche aber nicht aus ihrer Wut und Verzweiflung heraus helfen konnten.


Wut auf mich, Wut auf Gott, Wut auf die Menschen, die sagen: „Das wird schon wieder.“ – „Alles wird gut.“ – „Du wirst sehen, du wirst gestärkt daraus hervor gehen.“ Das mag alles richtig sein, allein es bringt mir nicht die Geliebten zurück, die mir so fehlen. Auch ein „Melde dich, wenn du etwas brauchst“, klingt in den Stunden der Verzweiflung wie ein Ruf aus weiter Ferne. Im Zustand der Schockstarre fühle ich mich unfähig, die dargebotene Hand zu ergreifen.


Zum Glück schwingt das Pendel auch zur gesunden Seite. Mit meiner wachsenden Akzeptanz der Situation bleibt es dort auch länger stehen. Dann hellen mich Ratschläge, Gebete und Meditationen auf und ich freue mich über jede noch so kleine Aufmerksamkeit.


In solchen Momenten tut es auch gut, wenn ich in den Baha'i-Schriften Formulierungen finde, die mir direkt aus dem Herzen sprechen:


O mein Gott ... Steh mir bei in meiner Einsamkeit und sei mit mir in meiner Verbannung. Nimm meinen Kummer hinweg und mache mich Deiner Schönheit ergeben. Löse mich von allem außer Dir. Lass mich angezogen sein von den Düften Deiner Heiligkeit. ... Wahrlich, Du bist der Gnädige, der Großmütige.
Abdu'l-Baha, in: Baha'i-Gebete

Erschaffe in mir ein reines Herz, o mein Gott, und schenke mir wieder ein ruhiges Gewissen, o meine Hoffnung! ... offenbare mir Deinen Pfad durch das Licht Deiner Herrlichkeit, o Du Ziel meiner Sehnsucht ... und erfreue mich mit den sanften Winden Deiner Ewigkeit, o Du, der Du mein Gott bist! Lass Deine ewigen Weisen Ruhe über mich strömen, o mein Gefährte ... und lass die Botschaft der Offenbarung Deines unzerstörbaren Wesens mir Freude bringen, o Du, der Du der Offenbarste des Offenbaren und der Verborgenste des Verborgenen bist!
Baha'u'llah, in: Baha'i-Gebete

Die Stimmungsschwankungen machen es meinem Umfeld natürlich nicht leicht, mit meiner Trauer umzugehen. Vor allem denjenigen Menschen nicht, die in einem Umfeld aufgewachsen sind, in dem die Kultur der Trauer nur eine Randerscheinung geworden ist; nur noch zelebriert auf Beerdigungen mit überfrachteter Musik, Reden und dafür ausgewählter (Ver-)Kleidung.


Die Hilflosigkeit vieler Erwachsener in meiner Kindheit („Sei nicht traurig.“ – „Da musst du doch nicht weinen.“' – „Das kann man doch ersetzen.“) ließ auch mich Trauer als ein negatives Gefühl erleben. Dabei kann ich meine Gefühle nicht bewerten. Wut, Trauer, Freude oder Angst rufen positive oder negative Reaktionen hervor, sind aber nicht automatisch negativ oder positiv. Diese Gefühle sind Reaktionen auf Ereignisse in meinem Leben, Spiegel meiner Erfahrungen und Erlebnisse.


Je weiter ich diese Erkenntnisse verinnerlichte, desto dankbarer wurde ich für meine Trauer. Dankbar für die Möglichkeit, mich zu erforschen und neu anzunehmen, mit allen Facetten. Immer wenn ich wertfrei auf die Entdeckungsreise ins Innere gehe, werde ich mit vielen Edelsteinen belohnt, auch wenn sie auf den ersten Blick nicht danach aussehen mögen. Damit komme ich gemäß der Baha‛i-Lehren einem der Ziele menschlichen Daseins jedesmal einen Schritt näher:


Wenn der eine, wahre Gott ... sich den Menschen offenbart, verfolgt Er das Ziel, die Edelsteine ans Licht zu bringen, die in den Gesteinsadern ihres wahren inneren Selbstes verborgen liegen.

Deshalb gilt der Mensch als das größte Zeichen Gottes, ... denn alle Geheimnisse des Universums sind in ihm zu finden.
Abdu'l-Baha, Beantwortete Fragen

Betrachte den Menschen als ein Bergwerk, reich an Edelsteinen von unschätzbarem Wert. Nur die Erziehung kann bewirken, dass es seine Schätze enthüllt und die Menschheit daraus Nutzen zu ziehen vermag.

Ich habe eine lange Zeit meines Lebens in Japan verbringen dürfen. Auch eine Kultur, die schwer Zugang zu Gefühlen zuzulassen scheint. Der Umgang mit Verstorbenen dort hat mich umso mehr beeindruckt. So gibt es in jedem Haus einen Schrein, an dem der Verstorbenen erinnert wird. Regelmäßig werden ihre Lieblingsspeisen oder -getränke dort platziert. So bleiben die Geliebten Teil des Alltags. Das scheint erst mal im Widerspruch zu dem Bedürfnis des Abschließens zu stehen, kann aber auch das Loslassen vereinfachen, weil der Übergang sanfter ist.


Das Mit-etwas-Abschließen scheint bei der Trauerarbeit in Japan nicht so im Mittelpunkt zu stehen. Vielleicht weil in der buddhistischen Lehre der Kreislauf des Lebens weitergeht.


Jedes Jahr im August wird das O Bon Fest gefeiert. Der Legende nach besuchen die verstorbenen Seelen ihre Verwandten auf der Erde. Die wiederum besuchen ihre Familiengräber, reinigen diese und bringen Opfergaben. Die O Bon Zeit ist einer der drei Anlässe im Jahreskalender, an denen die Menschen in ihre Heimat zurückkehren und sich die Familien versammeln.


Ich weiß nicht, wo diese Trauerreise mich noch hinbringt, aber wenn es so weiter geht, bringt sie mich ein gutes Stück mir selber näher. Weil ich verstanden habe, dass die Anwesenheit geliebter Menschen meine seelischen Verletzungen überdeckt, aber nicht geheilt hat. Die Trauerarbeit ist eine große Chance, diese Verletzungen in Angriff zu nehmen. Sie hat mir geholfen, die dunkelsten Ecken meines Herzens auszuleuchten und aufzuräumen. Die Baha'i-Schriften erklären mir den spirituellen Hintergrund dazu:


Wer am meisten leidet, der wird die größte Vervollkommnung erfahren. ... Solange ein Mensch glücklich ist, mag er wohl Gott vergessen, doch wenn ihn Kummer ankommt und Sorge überwältigt, wird er sich des Vaters, der im Himmel ist und ihn aus seiner Erniedrigung zu befreien vermag, erinnern.
Menschen, die nicht leiden, erfahren keine Vervollkommnung. Die vom Gärtner am stärksten beschnittene Pflanze wird, wenn der Sommer kommt, die schönsten Blüten und die üppigsten Früchte bringen.
Abdu'l-Baha, Ansprachen in Paris

Natürlich bereichert mich die Anwesenheit geliebter Menschen. Aber sie ist nicht verantwortlich für mein Glücklichsein. Selbstverständlich ist es schöner, geliebte Menschen in der Nähe zu wissen, aber das wirkliche Glück kommt aus dem Inneren. Diese Erkenntnis auch zu fühlen und zu leben ist meine aktuelle Aufgabe.


... erkannt, dass des Menschen höchste Ehre und wahres Glück in der Selbstachtung liegt, in hohen Entschlüssen und edlen Vorsätzen, in der Unversehrtheit und Sittlichkeit der Person, in der Reinheit des Denkens.

Und wenn mich doch wieder die Trauer festhält, erinnere ich mich an die Zeilen, die der japanische Sänger Masafumi Akikawa in seinem Lied „Sen no Kaze“ (Tausend Winde) Trauernden geschenkt hat:


Bitte weine nicht an meinem Grab Dort bin ich nicht, schlafe nicht Ich bin Tausend Winde Überquere den großen Himmel
Im Herbst werde ich zu Lichtstrahlen, die in die Felder leuchten Im Winter zu Diamanten, die im Schnee funkeln Morgens zum Vogel, der dich weckt Abends zum Stern, der über dich wacht.
Masafumi Akikawa, (Text im Original von Clare Harner, freie Übersetzung von Friedemann Landsberg aus dem Englischen)

 

Friedemann Landsberg ist Freiburger, Hamburger, Fukuokaer, Matsuyamaer, Imabarier, Potsdamer und Vater von drei schulpflichtigen Kindern. Seine Leidenschaften sind Bäume, Bücher, Rugby und Spaziergänge mit guten Gesprächen.


bottom of page