Höhenflug der Künstlichen Intelligenz in den Sozialen Medien?
- Ingo Hofmann
- vor 3 Tagen
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Ihre Chancen und Risiken im Alltag
Dieser Beitrag ist eine Fortsetzung des Artikels zu „Immer höher hinaus – oder tiefer stürzen?“, Link zu Teil 1
Wissen wir eigentlich, wo und wie die Künstliche Intelligenz (KI) überall praktisch mitspielt? Ich selbst habe keinen Überblick mehr, obwohl ich ihr in meinem Beruf schon sehr früh begegnet bin. Da war sie nur ein unumstrittenes wissenschaftliches Hilfsmittel, das den Umgang mit großen Datenmengen erleichterte. Jetzt ist sie weit mehr und fast überall, wo auch Geld und Macht eine Rolle spielen, ohne das auf den ersten Blick sichtbar zu machen. Das liegt alles noch im Vorfeld einer erwarteten Superintelligenz, von der in Teil 1 die Rede war.

Die sozialen Medien sind ein Musterbeispiel dieses auf den ersten Blick kaum erkennbaren Wirkens der KI und ihres starken Einflusses auf den Nutzer. Nach bekannten aktuellen Schätzungen verfolgen etwa 65% der Erdbevölkerung soziale Medien, in Deutschland etwa 75-80%. Generell ist davon auszugehen, dass die Motive für ihre Nutzung von dem jeweiligen kulturellen und wirtschaftlichen Umfeld sowie der Altersstruktur abhängen. Wo Geld gerade zum Überleben ausreicht ist Wirtschaftswerbung weniger gefragt. Anders in Ländern wie Deutschland, in denen Konsum und Lebensstil oft den Alltag beherrschen und damit auch die sozialen Medien.
Grundsätzlich ist gegen technologischen und anderweitigen Fortschritt nichts einzuwenden. Die Baha'i-Lehren weisen auf das große Potenzial von Neuerungen für die Stärkung und Bildung der Menschen hin:
Wäre es von Nachteil, das Bildungswesen zu erweitern, nützliche Künste und Wissenschaften zu entwickeln, Industrie und Technik zu fördern? Solche Bemühungen heben doch den einzelnen Menschen inmitten der Masse empor und führen ihn aus den Tiefen der Unwissenheit zu den Gipfeln der Erkenntnis und der Vortrefflichkeit.
Abdu'l-Baha, Das Geheimnis göttlicher Kultur
Der großen Beliebtheit sozialer Medien steht die wachsende Sorge und Skepsis über ihre negativen Seiten gegenüber. Eltern wie auch Lehrkräften bereitet die Intensität der Nutzung in der Altersgruppe 16-24 Jahre Sorge, die durchschnittlich über drei Stunden täglich liegt. Am Wochenende bis zum Doppelten, besonders bei noch schulpflichtigen Jugendlichen. Daher steht die Frage eines wirksamen Verbots sozialer Medien für Kinder und Jugendliche unter 16 Jahren nun auch bei uns in Deutschland auf der Agenda. Widerstand meldet sich erwartungsgemäß, besonders von der Werbeindustrie. Mit wachsendem Alter nimmt die Stundenzahl nur langsam ab, erst ab 50 Jahren durchschnittlich unter einer Stunde. Nicht überraschend ist, dass TikTok und Instagram bei Jugendlichen dominieren, während WhatsApp und selbst Facebook in allen Altersgruppen beliebt sind.
Die Macht der Faszination
Nicht so leicht in wenige Zahlen fassen lässt sich die Motivation zur Nutzung der sozialen Medien. Alle, die sich noch an die Zeit ohne Smartphone erinnern, nehmen bewusst das Bild wahr, das mir erst neulich wieder begegnete: Am Nachbartisch sitzen Kinder mit ihren Eltern im Restaurant, ihre Blicke auf dem Smartphone, während die Eltern miteinander reden, oder auch das Gleiche tun. Könnte auch beim Spazierengehen oder wo auch immer so sein. Nach unten keine klare Altersgrenze.
Die meisten wissen, dass vor allem TikTok maßgeschneidert die Bilder und Videos ins Haus liefert, die am meisten gefallen – immer mehr und für mich immer passender, wofür der KI-Algorithmus sorgt. Das fasziniert und kann leicht süchtig machen. Inhalte, die den Betrachter auch zum Nachdenken anregen könnten, haben kaum eine Chance. Bei TikTok jedenfalls muss man sie mit der Lupe suchen. Selbstdarstellung ist allgemein die zentrale Botschaft in den sozialen Medien.
Generell gilt die Feststellung, dass soziale Medien von KI beherrscht werden, dabei aber nur ganz nebenbei „sozialen“ Zwecken dienen. Die Sorge wächst, dass sie immer mehr in die Gegenrichtung wirken: die freie Zeit für echte Begegnungen schrumpft, schulische Konzentration, Nachdenken und Erwerb von echtem Wissen leiden dabei. Dafür wächst die Langeweile ohne Smartphone in der Hand. Als Folge nimmt auch die medizinisch festgestellte Sucht vor allem bei den jüngeren Jahrgängen stetig zu.
Aufmerksamkeit über alles – aber wofür eigentlich?
Das Grundgesetz sozialer Medien ist das Ringen um Aufmerksamkeit. Wie kann ich nur Anerkennungsklicks und vor allem mehr Follower erreichen? Nach vielen Experten betritt ein erfolgreicher Instagrammer ab typisch 1000 Followern die Welt der „Influencer“, ab 500 zumindest mit einem Fuß, nach oben fast unbegrenzt. Soziale Medien werden schnell zu einem Statussymbol, wenn viele Leute sehen und gutheißen, was man postet. Was zählt, ist dabei oft körperliche Schönheit und Werbung bis hin zu Identitätspolitik und Diskriminierung.
Dem gegenüber steht die Tatsache, dass auch religiöse Gemeinschaften zunehmend diese Plattformen nutzen. Klarer Spitzenreiter bezüglich Qualität und Quantität mit klugen Ansätzen ist hier die Evangelische Kirche in Deutschland, die dabei auch kritische Themen unserer Zeit anspricht. Dabei wird vermutlich erkannt, dass darauf nicht verzichten werden kann, wenn der Kontakt mit der weiteren Gesellschaft, vor allem der jüngeren Generation, nicht verloren gehen soll. Andererseits dürfe sie auch nicht ihre geistig-spirituellen Werte dabei aufs Spiel setzen – so die durchaus hörbare Kritik aus den eigenen Reihen. Die jungen Nutzerinnen und Nutzer erleben ein Überangebot kommerziell motivierter Angebote gegenüber den Versuchen ideell oder religiös engagierter Gruppen, die ebenfalls in die Arena der Aufmerksamkeitsökonomie eintreten wollen.
Trotz aller Unterschiede tragen die Religionen ein gemeinsames Selbstverständnis in sich über den hohen, unantastbaren Wert des Menschen und die damit verbundenen ethisch-moralischen Aspekte. Im Christentum ist die Rede vom Menschen als „Ebenbild Gottes“. Im Baha'i-Glauben wird „Gottähnlichkeit“ oft so gedeutet, dass Gott den Menschen erschaffen hat als Ausdruck der Liebe zu seiner Schöpfung. Dabei geht es allen darum, das Gute zu sehen und zu fördern im Zeichen des Dienstes am Nächsten und der Gemeinschaft, bis hin zum Wohlergehen der ganzen Menschheit.
Denken und Glauben – sich ergänzende Elemente unseres Lebens?
Nach den Baha'i-Schriften hat Gott den Menschen mit Vernunft und der Fähigkeit des Denkens erschaffen:
Wenn Religion nicht mit der Wissenschaft im Einklang steht, ist sie Aberglaube und Unwissenheit, denn Gott hat den Menschen mit Vernunft ausgestattet, damit er die Wahrheit erkennen kann. Die Grundlagen der Religion sind sinnvoll und vernünftig. Gott hat uns mit Vernunft begabt, um diese Grundlagen zu erkennen und zu verstehen. Wenn sie der Wissenschaft und Vernunft widersprechen, wie könnte man an sie glauben und ihnen folgen?
Abdu'l-Baha, Die Verkündigung des Weltfriedens, 19. Mai 1912, Ansprache in der Divine Paternity Kirche Central Park West in New York
Der Zauberlehrling braucht den geistig-moralischen Kompass
Daraus ergibt sich eine zweifache Herausforderung des Menschen: einerseits, das einmalige Kommunikationsmittel Internet als Errungenschaft der Vernunft anzunehmen und seine Möglichkeiten zu nutzen; andererseits dabei aber auch die Grundwerte des ihm von Gott gleichfalls geschenkten Glaubens zu bewahren, um mit ihnen als geistig-moralischer Kompass die Zukunft zu gestalten.
Daraus ergibt sich für die Nutzung der sozialen Medien auch eine Leitlinie: Echte Kommunikation bedarf wirksamer Mittel, um Menschen in dem gewaltigen und oft lauten Ozean des Internets auf Dinge aufmerksam zu machen, die wir für den Sinn unseres Lebens und die gemeinsame Zukunft für wichtig halten. Das erfordert für die digitale Welt Beachtung der gleichen Grundregeln, die auch im persönlichen Miteinander gelten wie Respekt, Aufrichtigkeit, keine üble Nachrede oder Diskriminierung Andersdenkender oder anders aussehender Menschen.
Grundsätzlich gilt, dass der Mensch sein eigenes Denken nicht den sozialen Medien und der KI unterwerfen darf und damit zum Zweck der Technik oder Wirtschaft wird. Letztere müssen dem Menschen dienen – nicht umgekehrt. Sie sollen dabei helfen, das Wohl der Menschheit zu fördern, sei es in Medizin, Bildung, Umweltschutz oder den Wissenschaften. Menschen müssen letzten Endes immer verantwortlich bleiben für das, was die KI tut. Der oft gehörte Ausspruch „Maschinen haben selbst keine Moral“ schließt nicht aus, dass eine KI nach bestimmten moralischen Grundsätzen programmiert wird. Woher weiß ich aber, ob sie dabei nicht manipuliert wird? Ohne menschliche Aufsicht und verlässliche Werte ist das kaum vorstellbar. Religion und Wissenschaft dürfen einander nicht im Wege stehen.
Ingo Hofmann studierte Physik in München und war über drei Jahrzehnte im Raum Darmstadt-Frankfurt in der Forschung und als Hochschullehrer tätig. Er ist Vater von vier Kindern und lebt seit einigen Jahren in Potsdam, Brandenburg.
Bild generiert durch GenAI