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Im Dialog: „Immanuel Kant – Prophet der Vernunft?“

Autorenbild: Ingo HofmannIngo Hofmann

Ein Dialogbeitrag zu Immanuel Kant – Prophet der Vernunft? (Teil 1 und Teil 2).


Eine Leserin im Gespräch mit Ingo Hofmann – in Zeiten, in denen Vernunft und Religion gleichermaßen für den Weltfrieden gefordert sind.


Was ist ein Dialogbeitrag?


Der ewige Friede ist keine leere Idee

Frage: Teile der Welt steuern gerade weg vom Weltfrieden und in die Richtung von mehr Kriegen, statt weniger. Zugleich wurde in diesem Jahr der 300. Geburtstag von Immanuel Kant aufwendig gewürdigt. Warum eigentlich? Produzieren Philosophen jemals mehr als schöne Worte? Wo findet man im modernen Alltag, im gelebten Leben, nützliche Auswirkungen alter Philosophien wie der von Kant?


Das „aufwendig gewürdigt“ spiegelt in meinen Augen die Wahrnehmung nicht weniger Zeitgenossen wieder, dass Immanuel Kant gerade heute ernst genommen werden muss. Die ebenso hörbare Kritik daran hat in meinen Augen mehrere Gründe: Die heutige Welt ist gefangen in der Frage „was nützt mir das?“ oder im „unser Land zuerst!“ Im Kult des persönlichen oder nationalen Nutzens und Erfolgs bleibt wenig Platz für das Gemeinwohl und das Wohl der Menschheit insgesamt – und schon gar nicht für den Weltfrieden. Darum ging es aber in Kants Philosophie, die in einer föderalen Weltrepublik die Voraussetzung für einen dauerhaften Weltfrieden sah. Der altertümlich und kompliziert erscheinende Stil seiner Sprache erschwert heute allerdings den Zugang in seine Gedankenwelt. Umso wichtiger finde ich die öffentliche Auseinandersetzung mit Kant. Gerade in einer Zeit der wieder wachsenden Tendenz, Konflikte seien durch Kriege lösbar. Kant forderte ja nicht „Philosophen an die Macht“ wie einst Platon. Ich würde seine Forderungen eher als dringende „Politikberatung“ verstehen und kann nur hoffen, dass sie auch gehört werden inmitten der lauten Rufe nach mehr Kriegstüchtigkeit. Das bleibt dringend auch nach dem baldigen Ende des „Kant-Jahres“.


Frage: Kant veröffentlichte seine Vernunftethik in den 1780er-Jahren. Die Menschen

hatten also reichlich Zeit, sich damit zu befassen. Warum gibt es trotzdem

immer noch Kriege?


Die Zeit dazwischen dürfen wir nicht vergessen. Die Kriege Napoleons in ganz Europa beförderten das nationalstaatliche Denken des 19. Jahrhunderts. Es versprach Freiheit und Gerechtigkeit, die der Nationalstaat auch liefern konnte. Nach zwei Weltkriegen wurden große Hoffnungen auf den Völkerbund und die Vereinten Nationen gesetzt. Das Vetorecht der Siegermächte lähmt aber ihr Potenzial. Kant ging es auf der Basis seiner Vernunftethik um den Übergang vom Völkerrecht zwischen Nationalstaaten zu einem umfassenden Weltbürgerrecht auf der Basis einer weltumspannenden republikanisch-föderalen Ordnung. Wir würden sie heute demokratisch nennen. Die Lähmung der Vereinten Nationen – und aus verwandten Gründen auch die der Europäischen Union – hat leider Anteil an dem aktuellen Rückfall in den Nationalismus. Die Welt bleibt ja nicht stehen: wenn es nicht vorangeht, dann eben zurück – wohl auch aus Ratlosigkeit. Unter den Religionen weist die Baha'i-Religion mit ihren Lehren ohne jeden Zweifel in die von Kant philosophisch angedachte Richtung. Damit ist auch sie auf ihre Art Politikberatung. Vernunft und Glauben wohnen eben eng beieinander.


Frage: Aktuell erleben wir quasi einen Kalten Krieg 2.0. Manche empfinden die

Stationierung von US-Waffensystemen hierzulande als Kriegstreiberei, andere

fordern noch mehr Aufrüstung. Du hingegen erwähnst am Ende deines

Artikels Hinweise in den Baha'i-Schriften, dass „die organische Einheit des

ganzen Gemeinwesens“ gesichert werden kann. Wie soll das gehen?


Der Rückfall in den Nationalismus ist zugleich ein Rückfall hinter Kants Lehre vom gerechten Frieden – von gerechtem Krieg ist wieder die Rede. Man muss kein Prophet sein, um vorauszuahnen, dass die Spirale mit immer „besseren“ Waffensystemen das Potenzial hat, alle Mittel zu aktivieren – bis hin zum Einsatz von Atomwaffen. Den kann niemand wollen.

Die „organische Einheit des ganzen Gemeinwesens“ gemäß den Baha'i-Schriften kann man zunächst als religiöse Metapher oder Vision verstehen. Eine Beschreibung unserer politischen Realität will sie jedenfalls nicht sein. Vielmehr eine schrittweise Umsetzung einer der Menschheit innewohnenden religiösen Wahrheit in die harte Realität unserer Welt. Dieser Prozess erfordert Engagement auf der Ebene der gelebten Nachbarschaft – bis hinauf zu den Vereinten Nationen und darüber hinaus. Dabei geht es um die für ein handlungsfähiges Weltgemeinwesen erforderliche Neuorientierung der politischen, wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Strukturen in Richtung einer föderalen Weltrepublik mit Gewaltenteilung. Die „organische Einheit“ ist so ein Prozess, der nach den Baha’i-Schriften unverzichtbar ist für Gerechtigkeit und Wohlergehen der ganzen Menschheit.

Dass dieser Weg kein geradliniger, sondern ein krummer sein wird, wusste bereits Kant. Am Ende seines berühmten Traktats Zum ewigen Frieden schrieb er: „… ist der ewige Friede, der auf die bisher fälschlich so genannten Friedensschlüsse (eigentlich Waffenstillstände) folgt, keine leere Idee, sondern eine Aufgabe, die, nach und nach aufgelöst, ihrem Ziele (…), beständig näherkommt.“

Eine weise, beinahe prophetische Voraussicht.


 

Ingo Hofmann studierte Physik in München und war über drei Jahrzehnte im Raum Darmstadt-Frankfurt in der Forschung und als Hochschullehrer tätig. Er ist Vater von vier Kindern und lebt seit einigen Jahren in Potsdam, Brandenburg.


Photo von Wikimedia Commons, „Der Wanderer über dem Nebelmeer“ (Caspar David Friedrich, um 1818)


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