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  • AutorenbildIngo Hofmann

Kritische Themen – wie kann ich mitreden?

Gedanken zu Meinungen und „Diskursen“ in einer konfliktbeladenen Gesellschaft


Wer heute Nachrichten verfolgt, wird zumeist mit Berichten über Herausforderungen und Konflikte überflutet. Viele verlieren die Lust, darüber nachzudenken oder gar mit anderen darüber zu reden.


Unterschiedlichste Auffassungen werden zugelassen, selbst wenn sie einander widersprechen

Immer weniger Menschen erwarten, in überschaubarer Zukunft zufriedener zu werden. Soll ich mich in dieser Welt lieber ganz ins Privatleben zurückziehen und vor all den negativen Berichten die Ohren verschließen? Soll ich einen irgendwie zu mir passenden Weg suchen, etwas Nützliches beizutragen, weil ich an meine Nachkommen denke? Oder einfach aus einem Gefühl der Mitverantwortung heraus? Ist es überhaupt möglich, etwas zu verändern?


In der Baha'i-Gemeinde gilt die Empfehlung, nicht den Kopf in den Sand zu stecken, sondern sich an Schlüsselthemen unserer Gesellschaft zu beteiligen. Beispielsweise, indem ich darüber lese, zuhöre oder aktiv bei Projekten mitmache. Das kann mir helfen, Erklärungen zu finden und meine tiefe Verunsicherung zu beruhigen. Das nennen wir „Teilnahme an den Diskursen der Gesellschaft“.


Bleiben wir einen Augenblick bei dem Wort „Diskurs“. Dieser Begriff wird in drei verschiedenen Zusammenhängen verwendet, u. a. für den akademischen Diskurs. Dabei handelt es sich um eher formale, strukturierte Gespräche oder den schriftlichen Austausch zwischen Philosophen oder Sozialwissenschaftlern usw., wobei das Wissen über alles Mögliche hinterfragt werden soll. Um diesen Diskurs geht es mir hier aber nicht.


Hier ist der Diskurs gemeint, der sich mit dem Austausch der Gesellschaft über Probleme und mögliche Lösungen befasst. Dieser Austausch kann auf verschiedenen Ebenen stattfinden. Zum Beispiel in einer kleinen privaten Runde, im beruflichem Umfeld, in Organisationen oder in der ganzen Gesellschaft, also im öffentlichen Raum. Bei letzterem spielen die Medien eine zentrale Rolle. Diese öffentliche Diskussion bzw. der öffentliche Diskurs ist ein wichtiges, notwendiges Element der Demokratie in jedem Staatswesen mit freier Meinungsäußerung. Die Themen umspannen alles nur Erdenkliche, von Bildung und Erziehung über Gesundheit, soziale Gerechtigkeit bis hin zu Umwelt und Klima, der Vermeidung von Kriegsgefahr und schließlich zum Weltfrieden.


Medien und Meinungsfreiheit


Medien und Meinungsfreiheit spielen bei uns eine grundlegende, aber zunehmend auch fragwürdige Rolle. Sicher, große Veränderungen und Umbrüche, die die vorhandenen Lebens- und Herrschaftsformen infrage stellen, brachten schon immer gesellschaftliche Konflikte mit sich. Soziale und politische Unruhen als Folge wachsenden Elends oder des Zerfalls politischer Herrschaftssysteme versetzten ganze Kontinente in Aufruhr. Die Umbrüche des 19. Jahrhunderts, in denen auch um Gedankenfreiheit und freie Meinungsäußerung gekämpft wurde, hatten Auswirkungen bis weit ins 20. Jahrhundert. Hierzu heißt es in den Baha'i-Schriften:


Eine sorgfältige Lektüre der Lehren Baha'u'llahs lässt keinen Zweifel an der großen Bedeutung dieser Freiheiten für den Prozess der gesellschaftlichen Entwicklung. Nehmen wir nur Baha'u'llahs Verkündigung an die Könige und Herrscher. Lässt sich nicht allein aus ihr ableiten, dass Freiheit ein wesentlicher Zweck seiner Offenbarung ist? Seine Verdammungsurteile gegen die Tyrannei und Seine eindringlichen Appelle für die Unterdrückten liefern den deutlichen Beweis.
Universales Haus der Gerechtigkeit, „Freiheit und Ordnung

Zugleich aber warnte Baha'u'llah, der Stifter der Baha'i-Religion, vor Maßlosigkeit:


Was die Grenzen der Mäßigung überschreitet, hört auf, wohltätigen Einfluss auszuüben.

Im Hintergrund schwebt ein ziemlich neues Phänomen: die Vermischung oder gar Verschmelzung der digitalen Internet- mit der realen Erfahrungswelt. Das geschieht überall dort, wo der Glaube vorherrscht, vermeintliche Fakten würden umso wahrer, je lauter, aufgeregter und öfter sie verbreitet werden (siehe auch: Leyla Tavernaro-Haidarian, „Wahrheit“ in Zeiten von „Fake News“). Verschwörungstheorien über verborgene Steuerungskräfte unsichtbarer Mächte haben Hochkonjunktur.


Medien müssen sich die Kritik gefallen lassen, dass sie eine Art „Mainstream“ konstruieren, der offenbar wenig Raum für abweichende Meinungen lässt. Warum ist das so? Werden sie dabei tatsächlich gesteuert?


Nicht wenige Kritiker vertreten die mir einleuchtende These, dass die Medien – außer in autoritären oder diktatorischen Systemen – in der Regel keine Steuerung „von oben“ dazu brauchen. Laut dieser These besteht die Ursache eher in einer Überforderung von Journalisten, Redakteuren und Verlagen, die derart unter wirtschaftlichem Druck und anhaltendem Nachrichtenstress stehen, dass sie immer weniger Zeit haben für verantwortungsvolle Recherche und Überprüfung des Wahrheitsgehalts ihrer Berichterstattung. Konkurrenz-, Finanz- und Zeitdruck verleiten demnach dazu, erkennbaren Trends zu folgen und sie dadurch zu verstärken.


Gerade Nachrichten in sozialen Medien scheinen umso mehr Klicks zu erhalten, je mehr Erregung sie erzeugen. Am meisten dann, wenn sie zugleich zu Hass und Hetze oder gar Mord auffordern. Auf den Wahrheitswert kommt es dann nicht mehr an. Dieser krankhafte Mechanismus liegt wie ein dunkler Schatten über den ansonsten unverzichtbaren Medien.


Gibt es konfliktvermeidende Diskurse?


Oder: Ist eine sich entwickelnde Welt ohne Konflikte realistisch? Anders formuliert: Müssen Gespräche über zentrale Diskursthemen immer mit Konflikten beladen sein? Natürlich nicht zwingend.


Ich kann mir gut einen Diskurs ohne Konflikte vorstellen, beispielsweise über eine ideale, den Bedürfnissen der Zeit entsprechende Gestaltung von Kindergärten; über die Anforderungen an eine artgerechte und nachhaltige Nutztierhaltung; über eine Welt ohne Kriege – die Liste ließe sich endlos fortsetzen. Sobald es aber um die Umsetzbarkeit geht, tauchen beinahe zwangsläufig Widersprüche und Fragen mit hohem Konfliktpotenzial auf, das gewöhnlich auch mit einem hohen Aggressionspotenzial einhergeht. Es beginnt bei der Finanzierbarkeit und hört bei gegensätzlichen Weltbildern lange noch nicht auf. In den Baha'i-Schriften heißt es dazu:


Die Tatsache, dass wir meinen, selber im Recht zu sein und jeden anderen für im Unrecht halten, ist das größte aller Hindernisse auf dem Weg zur Einheit, und Einheit ist nötig, wenn wir zur Wahrheit kommen wollen, denn die Wahrheit ist nur eine.
Abdu'l-Baha, Ansprachen in Paris

„Einheit“ zielt hier auf das gemeinsame Interesse ab, befreit von der lähmenden und polarisierenden Wirkung rein persönlicher oder gruppenbezogener Interessen und Geltungsbedürfnisse. Die Berücksichtigung des Wohles der Gemeinschaft bis hin zum Wohlergehen der ganzen Menschheit ist hierbei das wirksamste Mittel zur Lösung von Konflikten. Der notwendige Prozess des Austauschs über alle Themen ist sicherlich mühsam, vielstufig und langwierig, bietet aber meist den einzigen gesunden Weg zu dauerhaft tragfähigen Ergebnissen (siehe auch: Markus Mediger, Gesucht: Weltfrieden).


Selbst im kleinen Rahmen der Familie treffen wir immer wieder auf alle Varianten des Austauschs über Probleme, oft auch mit voller Wucht. Das Auftreten von Konflikten liegt in unserer Natur, da wir wachsen, uns verändern und als Menschen dabei das Recht haben, durch Erkenntnisgewinn unseren einzigartigen Wert zu finden:


Betrachte den Menschen als ein Bergwerk, reich an Edelsteinen von unschätzbarem Wert. Nur die Erziehung kann bewirken, dass es seine Schätze enthüllt und die Menschheit daraus Nutzen zu ziehen vermag.

Für ein ausgeglichenes Familienleben muss ich bei Konflikten Lösungswege suchen. In der Familientherapie ist der Aufbau einer hierfür geeigneten Gesprächskultur heute selbstverständlich. Sie bildet die notwendige Basis für den gemeinsamen Weg zu konstruktiven Ergebnissen (siehe auch Makeena Rivers: Ausweg aus der Streitfalle – Wahrheitsfindung durch Beratung).


Konfliktvermeidung erscheint zwecks Aggressionsvermeidung oft der einfachere, friedlichere Weg. Allerdings handelt man sich auf diesem Weg eine trügerische Sicherheit ein, denn Konfliktvermeidung birgt folgende Gefahren:


  • Echte Probleme oder Herausforderungen können heruntergespielt oder ignoriert, kritische Analysen und Überlegungen vernachlässigt und wichtige Fragen und Bedenken übersehen werden.

  • Wenn Menschen sich in einem konfliktvermeidenden Diskurs allzu wohl fühlen, können sie möglicherweise weniger motiviert sein, dringende notwendige Veränderungen oder Verbesserungen vorzunehmen.

  • Eine zu positive Haltung kann dazu führen, dass unrealistische Erwartungen geschaffen werden. Wenn die Realität dem nicht entspricht, kann dies Enttäuschung und Frustration verursachen.


Von konfliktvermeidenden zu konstruktiven Diskursen


Um diesen Risiken auszuweichen lohnt es sich, den anstrengenderen Weg eines konstruktiven Diskurses zu gehen, der Konfliktsituationen nicht scheut, vielmehr versucht, sie zu überwinden, indem er ihr inhaltliches Potenzial nutzt. Um Missverständnisse zu vermeiden: Auch hier ist ein ausreichendes Maß an Optimismus erforderlich, denn der notwendige Mut und die Kraft für Veränderungen ergeben sich nur dann, wenn Hoffnung auf Verbesserung besteht.


Der konstruktive Weg kann also anspruchsvoll sein und erfordert eine Reihe von Bemühungen und Haltungen:


  • Die unterschiedlichsten Auffassungen werden zugelassen, selbst wenn sie einander widersprechen.

  • Respektvolles Zuhören, einander Ausredenlassen und das strikte Vermeiden von Verurteilungen und Abwertungen sind grundlegend.

  • Maßvoll vorgetragene Kritik muss erlaubt sein.

  • Die Teilnehmer konzentrieren sich auf konkrete Lösungen und schrittweise Verbesserungen, anstatt an negativen Aspekten hängen zu bleiben.

  • Der Hauptfokus liegt auf Lösungsorientiertheit in einem Gesprächsklima, das auf guter, stressfreier Kommunikation basiert.

  • Sobald eine Meinung geäußert wurde, wird nicht mehr beachtet, woher sie kam. Von Interesse ist nur, WAS gesagt wird, NICHT WER es sagt.


Es genügt nicht, nur gute Prinzipien und Ziele zu besitzen. Das Wichtigste dabei ist das Lernen an Hand konkreter Fälle. In einer neuen Veröffentlichung der Internationalen Baha'i-Gemeinde heißt es:


... die kluge Anwendung von Prinzipien auf konkrete Fälle ... kann nur durch Erfahrung erlernt werden. ... [Durch Lernen während des Handelns] werden Visionen und Strategien immer wieder überdacht. [Ideen] entwickeln sich organisch im Laufe der Zeit ...
Ein Planet, ein Lebensraum. Eine Baha'i-Perspektive zur Neugestaltung der
Beziehung der Menschheit zur Welt der Natur.

Auf das Thema Natur und Umwelt angewandt wird hier „konstruktiv“ auch als Lernen bis hin zu ganz konkreten Umsetzungen verstanden. Dies in dem vollen Bewusstsein des Konflikts zwischen einerseits der Gestaltungskraft unserer Kreativität und Wissenschaft, andrerseits der Zerstörungsmacht, die sich immer dann entfaltet, wenn „das gegenwärtige und künftige Gemeinwohl außer Acht“ gelassen wird.


Konflikte gehören zum Leben, weil sie der Motor für jegliche Weiterentwicklung sind. Sie zeigen den Bedarf für Veränderung an. Kritisch wird es immer dann, wenn nicht konstruktiv mit der Konfliktlösung umgegangen wird, beispielsweise wenn Konflikte aggressionsgeladen mit Gewalt ausgetragen, Beteiligte an ihrer Meinungsäußerung gehindert oder nicht alle berechtigten Interessen ausreichend berücksichtigt werden. Ein konstruktiver Diskurs, der zu mehrheitsfähigen Ergebnissen führt, ist der erste Schritt zur Konfliktbewältigung. Konflikte und Probleme lassen sich lösen, wenn aus diesem konstruktiven Diskurs ein Handeln erwächst, das sich selbst in einem fortlaufenden Lernprozess korrigiert.


 

Ingo Hofmann studierte Physik in München und war über drei Jahrzehnte im Raum Darmstadt-Frankfurt in der Forschung und als Hochschullehrer tätig. Er ist Vater von vier Kindern und lebt seit einigen Jahren in Potsdam, Brandenburg.



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