Fühlst du dich erschöpft, ausgelaugt, ängstlich, als würdest du eine richtig, so richtig schwere Zeit durchleben? Sehnst du dich angesichts der schnellen, verstörenden Gesellschaftsentwicklung nach der Rückkehr in eine schlichtere, weniger komplizierte Epoche?
Hast du das Gefühl, auf die massiven Umwälzungen der Gegenwart nicht ausreichend vorbereitet zu sein? Hat die Pandemie dich aus dem Gleichgewicht gebracht? Fühlst du dich durch Kriege und Kriegsgerüchte verunsichert? Befürchtest du, von der immer schneller werdenden Entwicklung überrollt, zum alten Eisen geworfen und bedeutungslos zu werden? Hat dich unser chaotisches, hektisches modernes Leben einfach zermürbt?
Wenn du auch nur eine dieser Fragen mit JA beantwortest, bist du nicht allein. Die Belastungen der modernen Gesellschaft und Angst vor einer sich auflösenden Zukunft scheinen unser ganzes Alltagsleben zu durchdringen. All diese Stressfaktoren tragen zu einem globalen Zeitalter der Angst bei.
Fachleute nennen dieses Gefühl „Diskontinuität“ – ein deutlicher Bruch in unserem normalen Gefühl von Kontinuität, also von Beständigkeit, ein scharfer Unterschied zwischen der Gegenwart und der jüngeren Vergangenheit. Das Empfinden für den eigenen fortlaufenden Lebenszusammenhang geht verloren. Solche Diskontinuität erleben Menschen häufig, wenn sie plötzlich großen Veränderungen ausgesetzt werden. Wenn die Gesellschaft sich mit rasendem Tempo verändert, erleiden wir ein Schleudertrauma.
Tragödien – eine Pandemie, ein Krieg, eine Naturkatastrophe – katapultieren uns mit unvorstellbarer Geschwindigkeit aus unserem gewohnten Leben ins Unerwartete. Auch das erzeugt Ängste, Furcht und den Verlust von Beständigkeit, also Diskontinuität.
Die Journalistin Elizabeth Weil beschrieb kürzlich in einem Artikel für die New York Times (verfügbar auch als Podcast) was unsere Angst vor Diskontinuität bedeutet und wie sie jeden befallen kann: Die meisten von uns haben zu lange gezaudert und vor dem tatsächlichen Zustand der Welt die Augen verschlossen. Während unser Denken auf der Stelle trat, hat sich die Welt weiterbewegt und sich dadurch unserem Verständnis entzogen. Jetzt sind wir in eine Lücke zwischen unserer eigenen Wahrnehmung der Welt und ihrer Wirklichkeit gefallen. Dessen müssen wir uns bewusst werden, die Breite dieses Grabens abschätzen und hinüberspringen.
Als Baha'i glauben wir, dass Einsicht in die geistige beziehungsweise spirituelle Wirklichkeit unserer Zeit das Sprungbrett zur Überwindung des Grabens sein kann. Nach den Lehren Baha'u'llahs, des Stifters der Baha'i-Religion, steht alles Geschehen in der Welt im Zusammenhang damit, dass Gottes Wort den Menschen in einer stetigen Abfolge durch seine Boten offenbart wird:
... dass alle Propheten Tempel der Sache Gottes sind, die in verschiedenem Gewand erscheinen. Wenn du mit scharfem Auge hinsiehst, wirst du erkennen, dass sie alle im selben Heiligtum wohnen, sich zum selben Himmel aufschwingen, auf demselben Throne sitzen, dieselbe Sprache sprechen und denselben Glauben verkünden.
Baha'u'llah, Ährenlese
Heutzutage scheinen wir in einer Zeit erheblicher Diskontinuität zu leben, eines raschen und sich ständig beschleunigenden Wandels und damit eines großen Bruchs mit der Vergangenheit. Wir erleben zwei Realitäten, einerseits unsere Wahrnehmung der Welt, andererseits ihre Wirklichkeit. Die eine ist beständig und gleichbleibend, die andere dagegen aufgespaltet und chaotisch – wie können wir sie in Einklang bringen?
Um diese Frage zu beantworten, lohnt sich ein Blick in die jüngere Geschichte. In wenig mehr als hundert Jahren haben wir Menschen eine ungekannt heftige, plötzliche Entwicklungsbeschleunigung in Wissenschaft, Technologie und unseren zwischenmenschlichen Beziehungen erlebt. Also in einer Zeitspanne, die die besonders Langlebigen unter den mehr als 8 Milliarden Menschen auf der Welt am eigenen Leib erfahren haben. Nach unzähligen Jahrhunderten einer sehr langsamen, kaum wahrnehmbaren Weiterentwicklung haben wir nie dagewesene Fortschritte gemacht. Geprägt von allumfassendem Handel, Kommunikation und beispiellosem kulturellem Austausch ist die Welt zu einer virtuellen Nachbarschaft geschrumpft. Unser Kollektivbewusstsein hat sich enorm ausgeweitet. Die alte, absolutistische Regierungsform von Königen und Herrschern ist in vielen Gebieten verschwunden. Wir rasen aus einer sich immer weiter entfernenden Vergangenheit in eine unbekannte Zukunft und bewegen uns dabei so schnell voran, dass schon allein die Veränderungsgeschwindigkeit uns die Orientierung rauben und verwirren kann.
Baha'i glauben, dass all diese Brüche das Heraufdämmern einer neuen Realität in der Welt anzeigen. Wir beginnen zu begreifen, dass wir als Menschen in unserem Wesen eins sind. Grenzen aller Art beginnen, sich aufzulösen. Die Wissenschaft bestätigt immer eindringlicher die gegenseitige Abhängigkeit allen Lebens. Neue Erkenntnisse über die DNA, also über unser genetisches Erbgut, haben in Zusammenhang mit der Ahnenforschung das Bewusstsein für unser gemeinsames Menschsein gefördert. Viele versuchen, die alten „Schubladen“ von Religion, Rasse, Nationalität und Klasse neu zu ordnen oder ganz über Bord zu werfen. Globale Themen wie Menschenrechte, Migration, Klimawandel, Terrorismus oder die Corona-Pandemie stellen andere Probleme in den Schatten und drängen sich an die Spitze unserer Sorgen.
Aber trotz dieser großen Fortschritte – oder vielleicht gerade wegen ihnen – hegen die Menschen ein Gefühl schwerer Diskontinuität, eines heftigen Bruchs. Traditionelle Systeme scheinen zerstört. Ehemals verlässliche Allianzen haben sich aufgelöst. Zuvor bewährte Herangehensweisen erzielen nicht länger die erwarteten Ergebnisse. In den Augen vieler steht die Welt am Rande des Abgrunds, vor einer Katastrophe. Viele empfinden es so, als sei die Realität zerbrochen.
Diese Gefühle entstehen, weil viele Menschen erleben, dass die Erfahrung aus der Vergangenheit uns nicht mehr mit den nötigen Handlungsvorgaben zur Bewältigung der Zukunft versorgen kann. Das ist Diskontinuität – die belastende, anstrengende Erkenntnis, dass wir unsere Welt nicht länger völlig verstehen und nicht vorhersehen können, in welche Richtung sie strebt. Der Autor und Futurologe Alvin Toffler nennt das den „Zukunftsschock“: Die Realität, in der wir zu leben glaubten, existiert nicht mehr und die Fähigkeiten, die uns durch die Vergangenheit hindurch geholfen haben, funktionieren in der neuen Wirklichkeit nicht mehr.
Die Todesqualen der Alten Ordnung
Baha'u'llah hat diese Diskontinuität des Einzelnen und der Gesellschaft im 19. Jahrhundert vorhergesagt. Er schrieb: „Bald wird die heutige Ordnung aufgerollt und eine neue an ihrer Statt entfaltet werden.“ Und 1934 schrieb Shoghi Effendi, der Hüter des Baha'i-Glaubens: „Wir stehen an der Schwelle eines Zeitalters, dessen Zuckungen zugleich die Todesqualen der alten Ordnung und die Geburtswehen der neuen künden.“
Fühlst du dich unvorbereitet auf den Untergang der bestehenden Gesellschaftsordnung? Viele empfinden so. Wir sind alle von der Alten Ordnung abhängig, egal wie unzulänglich sie ist. Wir brauchen sie für unseren Lebensunterhalt und unser grundlegendes Stabilitätsgefühl. Dessen ungeachtet sind im Weltgeschehen größere Kräfte am Werk, die einen starken Einfluss auf die Zukunft der Menschheit ausüben. Diese größeren Kräfte mögen geheimnisvoll, unsichtbar und sogar bedrohlich erscheinen - aber wenn wir uns bemühen, sie zu verstehen, kann uns das dabei helfen, uns von den beunruhigenden, verstörenden Gefühlen der Diskontinuität, des Bruchs zu befreien.
Die Baha'i-Lehren beschreiben und erklären diese größeren Kräfte. Sie beschränken sich nicht darauf, den aktuellen Gesellschaftszustand zu analysieren und zu bewerten. Vielmehr entfalten sie eine umfassende Vision dessen, was unsere Menschheitsfamilie in der zukünftigen Zivilisation erwartet, der wir uns mit Höchstgeschwindigkeit nähern. Tatsächlich bietet die Baha'i-Weltgemeinde der Menschheit ein Gegengift gegen Diskontinuität: einen Plan für eine hoffnungsfrohe und vielversprechende Zukunft. Unabhängig davon, ob du Baha'i bist oder nicht, kann dir also das Verstehen dieser größeren Kräfte dazu verhelfen, deinen Weg durch die raschen Veränderungen unserer Zeit zu finden.
Bald nachdem Baha'u'llah das Herannahen des neuen geistigen Systems angekündigt hatte, schrieb er:
Die Welt ist aus dem Gleichgewicht geraten durch die Schwungkraft dieser größten, dieser neuen Weltordnung. Die Lebensordnung der Menschheit ist aufgewühlt durch das Wirken dieses einzigartigen, dieses wundersamen Systems, desgleichen kein sterbliches Auge je gesehen hat.
Baha'u'llah, Kitab-i-Aqdas
Laut den Baha'i-Schriften wurde die Welt von der Offenbarung der Sendung Baha'u'llahs wie von einem äußerst machtvollen Erdbeben ergriffen und das geistige Gerüst der Menschheit fundamental erschüttert. Dieser neue Bote Gottes brachte den Menschen ein System von Lehren, die darauf abzielen, „die Lebensordnung der Menschheit“ zu revolutionieren. Schon die Offenbarungen Christi, Muhammads, Buddhas und anderer Gottesboten hatten die Menschenwelt grundlegend verwandelt. Ebenso wird diese neue Offenbarung den Wandel vorantreiben.
Die Geburtswehen der Neuen Ordnung
In seinem Buch Die Weltordnung Baha'u'llahs untersuchte Shoghi Effendi die beiden größeren gesellschaftlichen und geistigen Kräfte, die Baha'u'llahs Offenbarung freisetzte, und fasste sie so zusammen:
Wenn wir die Welt um uns betrachten, können wir nicht umhin, die mannigfachen Beweise der umfassenden Gärung wahrzunehmen, welche die Menschheit in jedem Teil des Erdballs und auf jedem Gebiet des menschlichen Lebens im Vorgefühl des Tages, an dem die Ganzheit des Menschengeschlechts anerkannt und ihre Einheit begründet sein wird, läutert und neu gestaltet. Ein zweifacher Vorgang lässt sich hier jedoch unterscheiden, wobei jeder dieser beiden Prozesse auf seine eigene Weise und mit wachsender Schwungkraft darauf angelegt ist, jene Mächte, die das Antlitz unseres Planeten umgestalten, zum Höhepunkt zu führen. Der erste Vorgang ist dem Wesen nach ein Integrationsprozess, während der zweite von Grund auf zersetzend ist. Im Zuge seiner stetigen Entwicklung entfaltet der erste Prozess ein System, das recht wohl als Modell jenes Weltgemeinwesens dienen kann, zu dem eine seltsam in Unordnung geratene Welt beständig fortschreitet. Demgegenüber führt der zweite Prozess in dem Maße, wie sein zersetzender Einfluss sich vertieft, zu einem immer gewaltsameren Niederreißen der veralteten Schranken, die den Fortschritt der Menschheit zu ihrem vorbestimmten Ziel zu hemmen drohen. Der aufbauende Prozess ist verknüpft mit dem jugendlichen Glauben Baha'u'llahs; er ist der Vorbote der neuen Weltordnung ... Die zerstörerischen Mächte, die den anderen Vorgang kennzeichnen, sollten mit einer Zivilisation gleichgesetzt werden, die ihre Antwort auf die Erwartung eines neuen Zeitalters verweigert hat und demzufolge in Chaos und Niedergang verfällt.
Shoghi Effendi, Die Weltordnung Baha'u'llahs
Das heutige Weltgeschehen lässt sich viel leichter durchschauen, wenn wir es im Licht dieser beiden gleichzeitig ablaufenden Prozesse, des aufbauenden und des zerstörerischen, betrachten. Die sich beschleunigende Entwicklung der Welt und die Probleme, die sie hervorruft, wird so nachvollziehbar. Dadurch können wir beginnen, die Gründe für die verwirrende Diskontinuität, für den Bruch in allen Lebensbereichen zu verstehen.
David Langness ist Journalist und Literaturkritiker. Er arbeitet für das Paste Magazine und schreibt für bahaiteachings.org neben seiner dortigen Rolle als Chefredakteur. Er lebt mit seiner Frau Teresa in Nordkalifornien/USA.
Dieser Artikel erschien im Original auf bahaiteachings.org
Photo von Susan Q Yin auf Unsplash
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