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  • AutorenbildMichael Merkel

Menschheit in der Pubertät

Es ist traumhaftes Wetter und die Vögel zwitschern. Ich sitze im Garten und beobachte, wie mein dreijähriges Enkelkind zufrieden und völlig in sich versunken im Sandkasten spielt. Diese friedliche Idylle steht in starkem Kontrast zu dem, was wir im Großen tagtäglich erleben. Ich frage mich, wie es tatsächlich um unseren Heimatplaneten bestellt ist und wie die nahe und ferne Zukunft der Menschheit aussehen mag.


Die Vereinigung der ganzen Menschheit ist das Kennzeichen der Stufe, der sich die menschliche Gesellschaft heute nähert

Hat die Menschheit eine lebenswerte Zukunft?


Trotz enormer Errungenschaften, die Menschen vor allem in der jüngsten Vergangenheit hervorgebracht haben, leben wir in einer Welt kaum kalkulierbarer globaler Risiken. Die mit Klimawandel, Krieg, Armut, Pandemie, Fanatismus oder anderen Übeln verbundenen Gefahren scheinen eher zu- als abzunehmen. Zuletzt hat uns der Ukraine-Krieg schonungslos vor Augen geführt, dass selbst die Gefahr eines Atomkrieges nicht gebannt ist und das Erreichen eines nachhaltigen Weltfriedens daher noch erhebliche Anstrengungen erfordert.


Kein Wunder, dass viele Menschen eine dauerhafte, realistische Überlebenschance der Menschheit stark bezweifeln – von einer lebenswerten Zukunft gar nicht zu sprechen. Die Baha'i gehen jedoch davon aus, dass die Menschheit die vielfältigen weltweiten Herausforderungen erfolgreich meistern wird. Mehr noch – in den großen Weltreligionen wird ein sogenanntes „goldenes Friedenszeitalter“ versprochen und die Baha'i sind überzeugt, dass dieses Zeitalter in greifbare Nähe gerückt ist. Ist dieser Optimismus gerechtfertigt oder naiv?


Wie können die Zeichen der Zeit gedeutet werden?


Die Zuversicht der Baha'i ergibt sich nicht zuletzt aus dem Bild, das die Baha'i-Religion vom einzelnen Menschen und der Menschheit als Ganzes vermittelt. Es wirft ein interessantes Licht auf die derzeitige Phase in der Geschichte. Demnach durchläuft die Gemeinschaft aller Menschen Entwicklungsphasen, die vergleichbar sind mit der Entwicklung der Einzelnen von der Geburt bis zum Erwachsenenalter.


Der normale Reifeprozess eines Menschen bietet damit ein wertvolles Modell für die Entwicklung der Weltgemeinschaft. Wie es in den Baha'i-Schriften heißt, hat die Menschheit in ihrem Reifeprozess das Kindesalter mittlerweile hinter sich gelassen und befindet sich heute inmitten ihrer turbulenten Pubertät:

Die langen Zeiten des Säuglings- und Kindesalters, welche die Menschheit zu durchschreiten hatte, sind in den Hintergrund getreten. Die Menschheit erlebt jetzt die Erregungen, die unabänderlich mit der stürmischsten Stufe ihrer Entwicklung, der Jugendzeit, verbunden sind. In dieser Zeit erreichen jugendliche Unbändigkeit und Heftigkeit den Höhepunkt.

Shoghi Effendi, in: Textzusammenstellung Frieden


Aus diesem Gleichnis lassen sich interessante Schlüsse ableiten. Hier einige Aspekte:


Die Menschheit in der Pubertät


Gehen wir, dem obigen Zitat folgend, einmal davon aus, dass die bisherige Geschichte seit Urzeiten bis heute von einer Menschheit gestaltet wurde, die sich allmählich vom Säuglingsalter über die Kindheit Richtung Jugend entwickelt, aber das Erwachsenenalter noch nicht erreicht hat. Unter dieser Voraussetzung darf bisheriges Fehlverhalten nicht als Maßstab für die Natur der Menschheit und ihr zukünftiges Schicksal angesehen werden. Erfahrungsgemäß kann aus den manchmal lebensgefährlichen Eskapaden unreifer Jugendlicher nicht darauf geschlossen werden, dass sie immer lebensmüde Adrenalinjunkies bleiben und niemals vernünftig werden. Wenn wir also die Weltgemeinschaft als ein Wesen in seiner stürmischen Jugendzeit betrachten, kann dessen Macht- und Kriegsgebaren plötzlich ganz anders verstanden werden – als das Imponiergehabe eines unsicheren pubertierenden Wesens namens „Menschheit“. So gesehen kann die Zukunft der Menschheit nicht anhand ihres unreifen, unberechenbaren Verhaltens früher und heute vorhergesagt werden – Pubertierende sind eben noch nicht erwachsen. Da wäre es doch ungerecht zu behaupten, dass die Menschheit unverbesserlich sei und der Weltfrieden damit ein unrealistisches und unerreichbares Ziel.


Generation Zwielicht – Wechsel von Licht und Schatten


Die Pubertät ist gewöhnlich eine Phase von Licht und Schatten. Einerseits verfügen Heranwachsende bereits über außergewöhnliche Einsichten und großartige Fähigkeiten. Andererseits erleben wir immer wieder, wie ihr Unabhängigkeitsstreben von heftigen Gefühlsausbrüchen, mangelnder Kontrolle der eigenen Stimmungen und des eigenen Verhaltens sowie gefährlichen Grenzerfahrungen begleitet wird.


Bei der Menschheit zeigt sich die Phase von Licht und Schatten dadurch, dass sie heute einerseits über außergewöhnliches wissenschaftliches Verständnis und ein reichhaltiges kulturelles Erbe verfügt – diese Errungenschaften aber andererseits noch nicht zum Wohle des Ganzen nutzen kann. Noch stehen nationaler Eigensinn und Systeme, die weder ausreichend noch gerecht die Bedürfnisse einer in allen Bereichen verflochtenen Welt berücksichtigen, dem dauerhaften Glück der Menschen im Weg.


Chaos als Zeichen des Übergangs


Die schmerzhaften Erfahrungen und womöglich sogar lebensbedrohlichen Situationen, die junge Menschen in der Pubertät durchleben, sind keine Hinweise auf ihr zu befürchtendes baldiges Ende, sondern kaum erträgliche, aber wohl unvermeidbare Begleiterscheinungen der turbulenten Umformungsphase von der Kindheit zum reifen Erwachsenenalter. Entsprechend sind die schweren Krisen der heutigen Zeit nicht Vorboten des Untergangs, sondern des Übergangs. In den Baha'i-Schriften heißt es:

Die Zeitalter der Unmündigkeit und Kindheit der Menschheit sind vorbei und kehren nie mehr wieder, während das Große Zeitalter, die Vollendung aller Zeitalter, welches das Kommen des Zeitalters des ganzen Menschengeschlechtes bedeutet, erst noch kommen muss. Die Erschütterungen dieses stürmischen Übergangsabschnittes in der Geschichte der Menschheit sind die wesentlichen Vorbedingungen des Zeitalters der Zeitalter und kündigen sein unvermeidliches Nahen an, ‚die Zeit des Endes', in welcher die Torheit und die Wirrnis des Streites, die seit dem Dämmern der Geschichte die Annalen der Menschheit schwärzte, endlich in die Wahrheit und Ruhe eines ungestörten, allumfassenden und dauerhaften Friedens umgewandelt sein wird, und in welchem die Zwietracht und Trennung der Menschenkinder einer weltumschließenden Aussöhnung und einer völligen Vereinigung der verschiedenen Elemente der menschlichen Gesellschaft gewichen sein werden.

Reife als natürlicher nächster Schritt menschlicher Evolution


Die bisherige Unreife der Menschheit ist vor dem Hintergrund des Pubertätsvergleiches nichts Ungewöhnliches oder Unnatürliches. Sie stellt vielmehr eine typische Phase des Entwicklungsprozesses dar, welche die Weltgemeinschaft gegenwärtig durchläuft. Ein Zeitalter der Reife ist damit der natürliche nächste Schritt menschlicher Evolution. Hierfür muss die stürmische Phase der Pubertät im Wortlaut eines Baha'i-Textes „Schritt für Schritt von der Ruhe, der Weisheit und der Vollendung abgelöst werden, welche die Stufe des Erwachsenenalters kennzeichnen. Dann wird das Menschengeschlecht jene Gestalt der Reife erlangen, die es befähigen wird, alle die Kräfte und Fähigkeiten zu erwerben, von denen seine Entwicklung letztlich abhängt.“


Reife ist eine Frage der Zeit


Von Person zu Person verläuft die Pubertät unterschiedlich lang und stark. Auch auf der Gesellschaftsebene kann niemand vorhersagen, wie viele leidvolle Erfahrungen und Katastrophen der Menschheit auf dem Weg zur Reife noch bevorstehen. Dennoch ist es nur eine Frage der Zeit, wann sie (endlich) dazu bereit sein wird, ihrer Pubertät zu entwachsen und die nächste Evolutionsstufe zu erreichen. Die großen Probleme, die die Menschen heute plagen, werden dann nachhaltig gelöst werden können.


Die Einheit der Menschheit als Basis


Eine wesentliche Eigenschaft reifer Erwachsener ist, dass sie sich nicht nur um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern, sondern immer auch das Ganze im Blick haben. Sie wissen, dass dauerhaftes Glück untrennbar mit dem Wohl ihrer Mitmenschen verknüpft ist und haben gelernt, ihre vielfältigen Fähigkeiten auch in den Dienst ihrer Familie und der Gesellschaft zu stellen. Auf der gesellschaftlichen Ebene entspricht dies der Beachtung des grundlegenden Prinzips der Einheit der Menschheit – in all ihrer Vielfalt. In den Baha'i Schriften heißt es dazu:

Die Vereinigung der ganzen Menschheit ist das Kennzeichen der Stufe, der sich die menschliche Gesellschaft heute nähert. Die Einheit der Familie, des Stammes, des Stadtstaates und der Nation ist nacheinander in Angriff genommen und völlig erreicht worden. Welteinheit ist das Ziel, dem eine gequälte Menschheit zustrebt. Der Aufbau von Nationalstaaten ist zu einem Ende gekommen. ... Eine Welt, die zur Reife heranwächst, muss ... die Einheit und Ganzheit der menschlichen Beziehungen erkennen und ein für allemal den Apparat aufrichten, der diesen Leitgrundsatz ihres Daseins am besten zu verkörpern vermag.

Shoghi Effendi, in: Textzusammenstellung Frieden


Fazit


Die großen Krisen und Turbulenzen unserer Zeit gleichen den Wirren und Abwegen stark pubertierender Jugendlicher. Die Ursache für fast alle globalen Herausforderungen besteht daher darin, dass die Menschheit als Ganzes bisher noch nicht die Reife erreicht hat, die der Entwicklungsstufe reifer Erwachsener entspricht. Daraus ergibt sich unter anderem, dass die Menschheit erst dann nachhaltigen Frieden, Wohlergehen und Ruhe finden wird, wenn sie im Denken und Handeln gemeinschaftlich diejenigen Eigenschaften aufweist, die im übertragenen Sinne reife Erwachsene kennzeichnen. Hierzu gehört in erster Linie das Bewusstsein für die Einheit der Menschheit und die Verankerung der damit verbundenen geistigen und moralischen Prinzipien in der Gesellschaft. Dann – aber auch erst dann – steht der Menschheit eine großartige Zukunft bevor. Wenn wir uns gemeinsam darum bemühen, können die heutigen Kinder es vielleicht noch erleben!


 

Michael Merkel, Jahrgang 1969, studierte Physik in München und arbeitet seit über 20 Jahren in einem großen Versicherungskonzern. Er ist verheiratet, hat zwei erwachsene Kinder sowie zwei Enkelkinder. Verschiedene Erkenntnisse zum Themenkomplex Wissenschaft und Glaube hat er in seinem Buch zusammengefasst: Eckpfeiler einer reifen Weltsicht – eine Einführung in das Prinzip der Einheit von Wissenschaft und Glauben. Hamburg (2021): Verlag tredition.


Photo von Jakob Schlothane auf Pexels


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