Es ist Februar. Viele beginnen bald mit Tagen der Enthaltsamkeit. Das gilt sowohl für Menschen unterschiedlicher Glaubensrichtungen als auch für jene, die sich aus gesundheitlichen Gründen eine Fasten(aus)zeit nehmen.
Nach einem Winter mit reichlichen Speisen und geringem Bewegungsdrang empfiehlt sich eine Pause. Eine Pause, um danach mit der vollen Kraft des Frühlings in ein neues, fruchtbares Jahr zu starten. Vielleicht, so mein Gedankenspiel, liegen „Fasten“ und „Feste“ nicht umsonst klanglich nah beieinander. Zeiten des Verzichts scheinen notwendig zu sein, um das Leben in vollen Zügen zu genießen. In der Religionsgeschichte folgen Fastenzeiten und Feiern schon seit Jahrtausenden auch terminlich oft aufeinander.
Was jedoch ist mit Fasten genau gemeint? Und gibt es eine „richtige“ Form des Fastens?
Wenn vom Fasten gesprochen wird, dann meinen oft nicht nur die Anhänger verschiedener Religionsgemeinschaften unterschiedliche Dinge. ... es gibt ... diverse Vorstellungen von Heilfasten, „Diäten“, Enthaltsamkeit, Askese ..., die alle mit dem Begriff des Fastens assoziiert werden. In verschiedenen Religionsgemeinschaften ... gibt es auch unterschiedliche Ansätze, um Enthaltsamkeit für eine bestimmte Zeit (Fastenzeit) zu definieren: Manche enthalten sich vollständig der Nahrung und der Flüssigkeiten ..., andere beschränken es auf bestimmte Nahrungsmittel ... und wieder andere definieren schon die Enthaltung von Sünden als Fasten. ... Das Judentum kennt vor allem drei Fastentage, welche jeweils eine vierundzwanzigstündige Nahrungs- und Flüssigkeitskarenz verlangen. Im Hinduismus wird rituelles Fasten in vielen verschiedenen Formen praktiziert. ... Im Buddhismus unterscheidet sich das Fasten der Mönche und Nonnen von demjenigen der Laien. ... Im Christentum gibt es in den unterschiedlichen Konfessionen verschiedene Arten des Fastens ... [I]m deutschsprachigen Raum werden immer öfter kirchliche Heilfastenwochen als Exerzitien angeboten ... Im islamischen Ramadan wird einen ... Mondmonat lang ... von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang auf Essen und Trinken verzichtet. In der Baha'i-Religion wird ähnlich wie im Islam gefastet, nur dass die Fastenzeit immer im Monat März stattfindet und lediglich neunzehn Tage beträgt.
Daniela Liebscher: Disseration „Auswirkungen religiösen Fastens auf anthropometrische Parameter, Blutfettwerte und Hämodynamik normalgewichtiger gesunder Probanden“, Quocosa 2012, S. 4-5, zu finden unter: urn:nbn:de:bsz:14-qucosa-96299
Das religiöse Fasten scheint als Phänomen so vielfältig wie die Menschheitsfamilie und im Kern doch gleich zu sein. Meist verbinden sich körperlicher Verzicht mit dem Wunsch, sich innerlich dem Göttlichen zuzuwenden. Heutzutage ist vielleicht besonders bedeutsam, dass religiöse Schriften Hinweise auf das Entwicklungspotential des Fastens sowohl für Einzelne als auch für die Gesellschaft bieten.
Für Einzelne kann das Fasten zum Beispiel eine Einladung sein, eigene Gewohnheiten und Einstellungen zu hinterfragen. So beschreibt es ein Fastender, der sich für seine Fastenzeit in ein Kloster begeben hat:
Die Fastenzeit ist ... auch eine Zeit des Leerwerdens. Haben wir nicht auch einen Beutel, den wir das ganze Jahr über vollstopfen, mehr als ihm oft gut tut? Während meines Fastens mache ich ihn ganz leer und wasche ihn aus. Bis in die letzte Magenfalte und Darmzotte. Und ich leere noch mehr. Mein Hirn: überbordend vor unnützem Gerümpel, Klatsch, billigem Fernsehkitsch, kleinkariertem Tagesärger. Mein Herz: bis an den Rand gefüllt mit Alltagssorgen und Alltagswünschen, mit großen und kleinen Verletzungen, Enttäuschungen und Erwartungen. Jetzt wird ausgemistet. Das Heilige in uns braucht Raum, so kommt es mir in den Sinn.
Peter Seewald, Bernhard Müller: „Das Fasten der Mönche“, Wilhelm Heyne Verlag 2004, S. 134-135
Warum ist das so, wie kann körperlicher Nahrungsverzicht solche inneren Prozesse antreiben? Anselm Grün beruft sich auf alte Kirchentraditionen, wenn er schreibt, dass
... das viele Essen ... die geistige Wachheit des Menschen [mindert]. Leibliche und seelische Gesundheit bilden eine Einheit.
Anselm Grün: „Fasten“, Vier-Türme-Verlag 2002, S. 20
Sicher kennen viele Menschen in reicheren Weltgegenden die allgegenwärtige Möglichkeit der Ablenkung durch Essen:
Mit gutem Essen und Trinken kann ich vieles verdrängen. Meine tief im Herzen sitzende Unlust und Leere können gar nicht hochkommen. Im Fasten begegne ich mir selbst, begegne ich den Feinden meiner Seele, dem, was mich innerlich gefangen hält.
Anselm Grün: „Fasten“, Vier-Türme-Verlag 2002, S. 28
Da ist es nicht verwunderlich, dass Fasten für viele gläubige Menschen eine Möglichkeit zur inneren Befreiung und Festigung darstellt. So schreibt Baha'u'llah, der Stifter der Baha'i-Religion:
Und wir verordneten Pflichtgebet und Fasten damit alle Gott, dem Mächtigsten, dem Inniggeliebten, näher kommen.
Baha'u'llah, Die Bedeutung von Pflichtgebet und Fasten
Der Begriff des „Inniggeliebten“ ist meines Erachtens sehr passend im Kontext des Verzichts. Fasten hat viel mit Liebe zu tun! Warum würde man sonst auf etwas verzichten, das man liebt, das einen nährt und erhält, wie gutes Essen? Doch nur für etwas, das man noch mehr liebt, nicht wahr? So heißt es in den Baha'i-Schriften:
Glücklich seid ihr, dass ihr ... das Fasten in der heiligen Zeit gehalten habt; denn körperliches Fasten ist äußeres Zeichen geistigen Fastens, es ist ein Symbol für Selbstzucht, dafür, dass man sich aller Triebe des Selbstes enthält, die Merkmale des Geistes annimmt, vom Himmelsodem weggetragen wird und an der Liebe Gottes Feuer fängt.
Abdu'l-Baha, Briefe und Botschaften
Für viele mag diese Liebe zum Göttlichen lebensfern klingen. Aber sie ist es nicht. Im Gegenteil, sie kann im Alltag sehr entscheidend für unsrer Selbstgefühl sein. Viele Menschen gewinnen durch das Fasten etwas, das ihnen weit mehr wert ist als körperliche Annehmlichkeit. Der Fastenarzt Otto Buchinger beschreibt es treffend:
Der Fastenarzt soll die Seelen Fastender, also der von Erdbindungen freieren Menschen, heilend führen. Das kann er aber nur, wenn er ihre Angst löst, die Ur-Angst, die Angst vor dem Tode. Sie ist nur zu lösen, wenn die Menschen wieder in ein lebendiges Abhängigkeits-Verhältnis kommen zu Gott, also durch Religion, durch ‚Wiederverbindung‘ mit ihrer Ur-Heimat, dem Vaterherzen, dem Mutterschoß, in dem ihr Ich seinen ewigen Ursprung hat.
Otto Buchinger: „Das Heilfasten“, Hippokrates Verlag 1975, S. 137
Diesen inneren Frieden, dieses Zur-Ruhe-Kommen, erlebe ich oft im Austausch mit Fastenden. Es scheint, als ob das Fasten eine neue Perspektive auf das eigene Leben, die eigenen Abhängigkeiten und Ängste bietet. Es kann den Weg zu einer neuen Freiheit, neuem Mut und einem Neuanfang eröffnen. Das Selbst scheint sich klarer zu zeigen. Die Fähigkeit wächst, die Welt mit eigenen Augen, also nicht wie alle anderen zu sehen. Denn während des Fastens fühlt man sich unabhängiger von der Meinung anderer; unabhängiger von Gewohnheiten, die uns gefangen halten können; unabhängiger von Zwängen. In den Worten des Psychiaters Prof. Dr. Brunnhuber:
Fasten wird durch das bewusste Erleben einer Veränderung in der Kontrolle der Nahrungsaufnahme zu einer spezifisch menschlichen Erfahrung. Unter diesem Gesichtspunkt fasten Tiere nicht ... Fasten als ein Lebensvorgang bedeutet, sich aufgrund von Anpassungsmechanismen besser auf ungünstige Verhältnisse in der Umwelt einstellen zu können ... Darüber hinaus ist Fasten jedoch ein tiefreichender innerer Vorgang, eine innere Erfahrung, auch dann, wenn Anpassungsleistungen versagen. Otto Buchinger nannte diesen Vorgang: „Zu-sich-selberkommen“, Anselm Grün beschreibt ihn als etwas, bei dem „aufgedeckt wird, wer ich eigentlich bin“, der Psychologe Carl Gustav Jung nannte es letztlich „Individuation“. In anderen Heiltraditionen der Erde ... geht es um die Überwindung der Leidenschaften und des Schattens als unbewusste Seiten des Seelenlebens. ... Vermutlich ist das Fasten eine zivilisatorische, anthropologische Konstante wie wir es etwa von der Bewegung, dem Sprechen, Schweigen oder Schlafen her kennen.
Brunnhuber S, Somburg O.: Psychologie des Fastens. zkm 2018; 2: S. 56
Trotz dieser „Individuation“, also trotz des sich selbst Bewusstwerdens der persönlichen Eigenart, führt das Fasten normalerweise nicht zur Abkapslung oder Selbstzentrierung. Im Gegenteil, dem Fasten wohnt auch eine gesellschaftsbildende Kraft inne. Und damit ist nicht nur seine politische Kraft gemeint, wie sie Mahatma Gandhi demonstriert hat. Es gibt auch verhaltenere, aber durchaus wirksame Elemente für gesellschaftlichen Zusammenhalt beim Fasten. Sowohl im Islam als auch in der Baha'i-Religion wird zum Beispiel gelehrt, wie das Fasten Barmherzigkeit und Mitgefühl fördern kann:
Wer von euch jedoch krank ist oder sich auf einer Reise befindet, der soll eine [gleiche] Anzahl von anderen Tagen [fasten]. Und denjenigen, die es zu leisten vermögen, ist als Ersatz die Speisung eines Armen auferlegt. Wer aber freiwillig Gutes tut, für den ist es besser.
Aller Preis sei Gott, der ... ihnen das Fasten auferlegte, damit, wer sein Auskommen hat, vertraut werde mit dem Leid des Bedürftigen.
Baha'u'llah, Die Bedeutung von Pflichtgebet und Fasten
Durch das Leiden, das viele beim Fasten empfinden, schärft sich anscheinend auch die Wahrnehmung für das Leid anderer. Vielleicht hat deshalb der Kirchenvater Basilius der Große so von der starken gesellschaftlichen Kraft des Fastens geschwärmt. Und vielleicht können wir beim Fasten oder Verzichten gleich welcher Art seine Worte im Herzen bewegen. Denn vielleicht haben wir Friedfertigkeit auf diesem Planeten noch nie so dringend gebraucht wie heute:
Wenn alle Völker den Rat des Fastens annähmen, um ihre Fragen zu regeln, würde nichts mehr verhindern, dass tiefster Friede in der Welt herrschte; die Völker würden nicht mehr gegeneinander aufstehen, und auch die Heere würden einander nicht mehr in Stücke hauen. Es würden an abgelegenen Straßen keine Wegelagerer auf der Lauer liegen, in den Städten gäbe es keine Denunziation mehr und auf der See keine Seeräuber. Unser ganzes Leben wäre nicht in so hohem Grad von Stöhnen und Seufzen erfüllt, wenn das Fasten es regelte. Das Fasten würde alle lehren, die Liebe zum Geld, zu überflüssigen Dingen und, im Allgemeinen, die Neigung zu Feindseligkeiten aufzugeben.
Basilius der Große, zitiert in: Nikolaus Brantschen, „Fasten“, Moser Verlag 1987, S. 79
Dr. med. Daniela Koppold (Liebscher) hat sich in ihrer Doktorarbeit mit religiösem Fasten beschäftigt und dafür in verschiedenen deutschen Fastenkliniken recherchiert (Diplom-Fastenärztin und Vorstandsmitglied @ ÄGHE). Sie gehört aktuell der Forschungsgruppe des Fastenexperten Prof. Andreas Michalsen an der Charité Universitätsmedizin Berlin an (Studienärztin @ Immanuel Hospital Berlin/Charité). Sie ist Mitgründerin einer Akademie für Ärzt*innen und Ernährungswissenschaftler*innen, in der Fachkräfte zur der Anwendung des Heilfastens in der Krankheitsbehandlung geschult werden (Mitbegründerin @ Akademie für Integratives Fasten).
Photo von Linus Nylund auf Unsplash