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AutorenbildMichael Merkel

Im Labyrinth der Gottesvorstellungen

Wie scheinbar unvereinbare Vorstellungen miteinander versöhnt werden können


Die mit Gott verbundenen Vorstellungen sind sehr unterschiedlich und zum Teil kaum miteinander vereinbar. Gängige Bezeichnungen sind Deismus, Pantheismus, Polytheismus und Monotheismus, und die Gottesvorstellungen reichen vom „weisen Vater“ bis hin zu abstrakten Prinzipien wie z.B. „die Liebe“. Lässt sich diese oft als Wirrwarr empfundene Vielfalt von Begriffen überhaupt auflösen?


Auf die innerste Wirklichkeit jedes erschaffenen Dings hat Er das Licht eines Seiner Namen ergossen

Auf der Suche nach einem zeitgemäßen Gottesbild


Aus der Wissenschaft wissen wir, dass unser Verständnis von der Welt nur so gut ist, wie unsere damit verbundenen modellhaften Vorstellungen. Ein mit modernen Vorstellungen verträgliches Gottesbild finden wir in den Schriften der jüngsten Weltreligion, dem Baha'i-Glauben. Betrachten wir dies etwas genauer.


Schon in älteren Religionen wurde das Göttliche häufig durch Licht symbolisiert. In den Baha'i-Lehren wird diese Analogie aufgegriffen und Gott immer wieder mit der zentralen natürlichen Lichtquelle, unserer Sonne, verglichen:


Die Wirklichkeit des Göttlichen gleicht der Sonne, die von ihren geheiligten Höhen auf alle Lande scheint und von deren Strahlen jedes Land und jede Seele einen Anteil erhält.
Abdu'l-Baha, Beantwortete Fragen

Die Sonne bildet damit eine Metapher, ein modellhaftes Bild, das unserem Verständnis von Gott hilft.


Die Schöpfung als „Ausströmung“ göttlicher Wirklichkeit


In diesem Rahmen lässt sich Gott mit der Sonne und die Schöpfung mit den Sonnenstrahlen vergleichen. Die Verknüpfung von Gott und Schöpfung beruht damit auf dem philosophischen Konzept der „Emanation“ (aus dem Lateinischen: „Ausströmen“). Dies bedeutet, dass die gesamte Schöpfung aus Gott hervorgeht, selbst aber keinen essenziellen, wesentlichen Teil Gottes darstellt. Betrachten wir exemplarisch einige Schlussfolgerungen dieser Deutung:


Sie bietet eine anschauliche Bestätigung der kosmologischen Betrachtungsweise: Da die gesamte Schöpfung (Strahlen) ursächlich aus Gott (Sonne) hervorgeht, ist Gott die unbedingte und unabhängige erste Ursache allen Seins. Gott steht unzugänglich und erhaben über und außerhalb seiner Schöpfung. Weiter lesen wir in den Baha'i-Schriften:


Das geheiligte Wesen der Sonne der Wahrheit ist unteilbar und steigt nicht auf die Stufe der Schöpfung herab. Ebenso wenig teilt sich die Sonne auf oder steigt auf die Erde herab, sondern ihre Strahlen – die Ausgießungen ihrer Gnade – emanieren aus ihr.
a. a. O.

Demnach kann kein substanzieller, körperhafter Teil in die Schöpfung eintreten. Ebenso erfordert die These einer Fleischwerdung Gottes nach den Baha’i-Lehren eine Umdeutung:


Wisse mit Gewissheit, dass der Unsichtbare niemals Sein Wesen Fleisch werden lässt und den Menschen enthüllt. Er ist und war immer unermesslich erhaben über alles, was sich aufzählen oder wahrnehmen lässt.
Baha'u'llah, Ährenlese

Unter diesem Aspekt ist auch die christliche Vorstellung von Jesus Christus als „Sohn Gottes“ zu verstehen. Die Gottessohnschaft kann demnach auf geistiger Ebene gedeutet werden.


Interessant ist auch, dass „Schöpfung“ sich als fortlaufend ergibt. Da es in der Natur der Sonne liegt, zu strahlen, ist auch die Schöpfung kein einmaliger Akt. Das widerspricht einer Vorstellung des Deismus, nach der das Weltall nach seiner Erschaffung losgelöst von seiner ersten Ursache weiterbesteht.


Der Einfluss des Göttlichen auf die Schöpfung


Für die sogenannte „erste Schöpfung“, zuweilen auch „Logos“ genannt, werden häufig die Bezeichnungen „Wort Gottes“ oder „Heiliger Geist“ verwendet:


Der Heilige Geist ist das Licht der Sonne der Wahrheit, das durch seine unendliche Kraft der gesamten Menschheit Leben und Erleuchtung bringt, alle Seelen mit göttlichem Glanz überflutet und der ganzen Welt die Segnungen der Gnade Gottes übermittelt.
Abdu'l-Baha, Ansprachen in Paris

Bezogen auf das Sonnen-Modell bedeutet dies:


Die Verbindung zwischen Gott und Seiner Schöpfung ist die zwischen … der Sonne und den dunklen Himmelskörpern.
Abdu'l-Baha, Beantwortete Fragen

Wenn wir also Gott mit der Sonne, den Heiligen Geist mit den Sonnenstrahlen und die übrige Schöpfung mit den Planeten des Sonnensystems vergleichen, haben wir eine weitere Variante des Gottesmodells.


Auch diese bestätigt die Erhabenheit Gottes. Zusätzlich wird aber auch der ungeheure Einfluss Gottes auf die Schöpfung veranschaulicht. Während die Sonne Ursache für Licht und Wärme ist, ist die Erde ohne eigenes Licht nur deren Empfänger. In der Tat gäbe es ohne Sonnenstrahlen auf der Erde kein Leben. Alles Leben existiert nur, weil das Sonnenlicht die dazu notwendigen biologischen Prozesse in Gang hält und die Biosphäre geeignet mit Energie versorgt.


Analog dazu ist der Heilige Geist die ordnende Kraft, welche das Universum permanent durchdringt und geistig belebt. Er bringt nicht nur Licht in die Seelen der Menschen, sondern ist Ursache und Antrieb jeglichen geistigen und materiellen Lebens.


Ein Herabsteigen Gottes auf die Stufe seiner Schöpfung ist nach diesem Verständnis nicht vorstellbar. Es ist der Heilige Geist, der zwischen Gott und Schöpfung vermittelt.


Die Schöpfung als Widerspiegelung des Göttlichen


Sonnenlicht ist zunächst unsichtbar. Trifft es jedoch auf ein Objekt, wird dieses sichtbar, wenn ein Teil des Farbspektrums reflektiert wird. In ähnlicher Weise trägt der Heilige Geist eine unendliche Bandbreite göttlicher Zeichen und Eigenschaften in sich, welche von der Schöpfung in vielfältigster Weise reflektiert werden:


Auf die innerste Wirklichkeit jedes erschaffenen Dings hat Er das Licht eines Seiner Namen ergossen; jedes hat Er zum Empfänger der Herrlichkeit einer Seiner Eigenschaften gemacht.
Baha'u'llah, Ährenlese

Die gesamte Schöpfung kann damit als ein Spiegel des Göttlichen angesehen werden. Je weiter entwickelt die Stufe und der Entwicklungsgrad eines Geschöpfs sind, desto mehr göttliche Eigenschaften vermag es widerzuspiegeln.


Die Baha'i-Schriften lehren, dass wir das, was sich von einem im Grunde unbegreifbaren Gott verstehen lässt, in reinster Form über die großen Religionsstifter erfahren können. Diese sind perfekten Spiegeln gleich, welche die unsichtbaren göttlichen Kräfte und Eigenschaften in eine für die Fassungskraft der Menschen begreifbare Form übersetzen. Daher rührt auch die Bezeichnung „Manifestationen“ Gottes.


Diese Erkenntnis ist der Schlüssel, um das Konzept der „Gottessohnschaft“ besser begreifen zu können. Am Beispiel Jesu Christi wird erklärt:


Die Wirklichkeit Christi [war] ein klarer Spiegel, in dem die Sonne der Wahrheit – also das göttliche Wesen – erschien und in unendlicher Vollkommenheit und mit grenzenlosen Eigenschaften erstrahlte. … Deshalb sagte Christus: „Der Vater ist im Sohn“, was bedeutet, dass jene Sonne in diesem Spiegel offenbar und sichtbar erstrahlt.
Abdu'l-Baha, Beantwortete Fragen

Eine Manifestation Gottes ist damit wie ein „Sohn“, den ein unerreichbarer und unbegreifbarer „himmlischer Vater“ von Zeit zu Zeit schickt, um die geistigen Einsichten und göttlichen Lehren in einer dem Zeitalter angemessenen Form zu übermitteln.


Weitere Merkmale dieses Gottesbildes


Diese wenigen Beispiele sollen verdeutlichen, welch vielfältige Einsichten sich aus dem vermeintlich einfachen Sonnenbild ableiten lassen. Insgesamt ergibt sich das monotheistische Bild eines in seinem Wesen unbegreifbaren Gottes, der erhaben und unzugänglich über seiner Schöpfung thront und dennoch über seinen Geist einen durchdringenden und dauerhaften Einfluss auf seine Schöpfung ausübt.


Das zeitgemäße dieses Gottesbildes zeigt sich in mehrfacher Hinsicht. Zum einen steht es nicht im Widerspruch zu moderner Wissenschaft. Im Gegenteil: Die Erkenntnisse aus dem kosmologischen wie auch dem teleologischen Gottesargument werden im Sonnenbild zu einem übergreifenden Gesamtbild verschmolzen. Darüber hinaus fügen sich in diesem facettenreichen Modell neben dem monotheistischen Kern auch die anderen gängigen Gottesbildkategorien als Teilaspekte harmonisch ein, indem ihre Grundwahrheiten bestätigt und ihre Verabsolutierungen aufgehoben werden:


  • Deismus: Die Schöpfung hat einen, von ihr getrennten, Urheber. Allerdings hat sich dieser nicht nach einem einmaligen Schöpfungsakt untätig zurückgelehnt.

  • Pantheismus: Das Göttliche durchdringt alles Sein. Jedoch kann die Schöpfung nicht mit Gott identifiziert werden.

  • Theismus: Gott lassen sich unzählige und damit auch persönliche Eigenschaften zuordnen. Gott ist aber keine Person im üblichen Sinne.

  • Polytheismus: Gott zeigt sich in der Schöpfung mit unendlich vielen Facetten. Dennoch gibt es nur einen Gott.


Im folgendem Wort werden die wichtigsten Merkmale dieses hier skizzierten Gottesbildes zusammengefasst:


Betrachte den einen, wahren Gott als Einen, der anders als alles Erschaffene und unermesslich darüber erhaben ist. Das ganze Weltall strahlt Seine Herrlichkeit wider, während Er selbst von seinen Geschöpfen unabhängig ist und sie weit überragt. Dies ist die wahre Bedeutung göttlicher Einheit. Er, die ewige Wahrheit, ist eine Macht, welche unbestrittene Herrschaft über die Welt des Seins ausübt, eine Macht, deren Bild im Spiegel der ganzen Schöpfung zurückgeworfen wird. Alles Dasein hängt von Ihm ab, und aus Ihm strömt der Lebensquell aller Dinge.
Baha'u'llah, Ährenlese

 

Michael Merkel, Jahrgang 1969, studierte Physik in München und arbeitet seit über 20 Jahren in einem großen Versicherungskonzern. Er ist verheiratet, hat zwei erwachsene Kinder sowie drei Enkelkinder. Verschiedene Erkenntnisse zum Themenkomplex Wissenschaft und Glaube hat er in seinem Buch zusammengefasst: Eckpfeiler einer reifen Weltsicht – eine Einführung in das Prinzip der Einheit von Wissenschaft und Glauben, Verlag tredition, Hamburg, 2. Auflage 2024.


Foto von David Clode auf Unsplash


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