1914. Seit ein paar Wochen tobt der Erste Weltkrieg. In diesem unsicheren Umfeld wird der kleine Erik am 9.9.1914 in Stuttgart als jüngerer Zwilling geboren. Der Vater, bekannter Frauenarzt und die Mutter, Fabrikantentochter, gehörten zum Großbürgertum. In den 1880er Jahren war der Vater vom Judentum zum Protestantismus konvertiert, damit er in Tübingen studieren konnte.

Von Nazis als Jude verfemt
Eriks unbeschwerte Kindheit endet mit der Einschulung in die Stuttgarter Römerschule. Seine Mitschüler beschimpfen ihn ob seiner jüdischen Abstammung als „Judensäckel“. Ebenfalls einschneidend wirkt sich 1926 die Scheidung seiner Eltern aus. Die Zwillinge werden getrennt. Erik lebt fortan beim Vater, seine Schwester bei der Mutter.
Auf dem Gymnasium setzen sich die antijüdischen Pöbeleien gegen Erik fort. Als Zweitbester des Abiturjahrganges 1933 erhielt er die silberne Karlsmedaille. Allerdings händigt der Rektor ihm sein Abiturzeugnis erst aus, nachdem er Folgendes unterschrieben hat: „Ich erkläre verbindlich, dass ich nicht studieren werde.“
Der junge Blumenthal war außerordentlich sportlich. Wegen seines jüdisch klingenden Namens lehnten jedoch sowohl die Stuttgarter Kickers als auch der VfB Stuttgart seine Vereinsaufnahme ab.
Da er nicht studieren durfte, musste Erik seinen Traum aufgeben, seinem Vater in den Arztberuf zu folgen. Er begann eine kaufmännische Lehre und wollte möglichst bald ins Ausland gehen. Als Geselle gelang ihm, 1936 ein halbes Jahr in England zu verbringen.
Im Zweiten Weltkrieg wurde er zunächst zur Wehrmacht für die Front in Russland eingezogen, dann aber dank der Erklärung seines Onkels als in dessen Firma „unabkömmlich“ („UK-Stellung“) zurückbeordert, später wieder eingezogen zum Einsatz in Italien, wo er schließlich in amerikanischer Gefangenschaft landete. Dort wurde er wegen seiner guten Englischkenntnisse als Dolmetscher eingesetzt. Nach der Kriegsgefangenschaft arbeitete er wieder bei seinem Onkel.
Wendepunkt Baha'i-Religion
Die große Wende in seinem Leben kam 1946. Er las das Wort „Baha'i“ in einer Zeitungsanzeige. Nachdem er herausgefunden hatte, dass sich Baha'i in Stuttgart in der Jakobsschule trafen, ging er zu einem Gesprächsabend mit dem Titel „Baha'i-Religion – Sie fragen, wir antworten“. Die Aussage, dass Jesus Christus ein Offenbarer in der Reihe vieler Gottgesandter wäre, irritierte ihn. So stellte er praktisch als Einziger unter den weit über 100 Anwesenden eine Frage nach der anderen. Er vertraute sehr auf sein Wissen und war sich sicher, Argumente gegen diese Aussage zu finden. Am Ende des Abends aber war er zutiefst erstaunt über die überzeugenden, freundlich vorgetragenen Antworten. Sein Interesse war geweckt. 1952 schloss er sich der Baha'i-Gemeinde an.
Individualpsychologie nach Alfred Adler
Im gleichen Jahr begann der mittlerweile Achtunddreißigjährige ein Psychologiestudium in Tübingen und Zürich. Als Baha'i faszinierte ihn die Aussage seines Glaubens, dass Wissenschaft und Religion in Einklang stehen. Nach längerem Suchen fand er die psychologische Schule, die ihm am besten entsprach: Die Individualpsychologie Alfred Adlers.
Religion und Wissenschaft im Einklang
Erik Blumenthal fand folgende Gemeinsamkeiten zwischen seiner wissenschaftlichen und seiner religiösen Überzeugung:
Erziehung
Der Mensch hat eine zielgerichtete Persönlichkeit mit Streben nach Vollkommenheit. Es gilt dabei, Tugenden zu entwickeln, z.B. Ehrlichkeit, Liebe, Hingabe, Großzügigkeit und Mut. Dabei spielt die Reinheit der Motive eine wichtige Rolle. Hierfür ist die Erziehung ausschlaggebend.
Sozialkompetenz
Der Mensch ist ein soziales Wesen. Die Beziehung und Liebe zu den Mitmenschen wird als Lebensaufgabe angesehen. Wichtig ist die Unterscheidung zwischen der Person und ihrem Verhalten. Nicht zwischen Tat und Täter zu unterscheiden, zeugt von mangelnder sozialer Kompetenz.
Gleichwertigkeit von Mann und Frau
Alle Menschen sind gleichwertig. Besonders wichtig ist die Gleichwertigkeit von Frau und Mann. In den Baha'i-Schriften heißt es:
„Die Menschenwelt besitzt zwei Flügel, den männlichen und den weiblichen. Solange diese beiden Schwingen nicht gleich stark sind, wird der Vogel nicht fliegen.“
Abdu'l-Baha, Textzusammenstellung Frieden
Ganzheitliches Menschenbild
Der Mensch wird als unteilbares Ganzes gesehen. Dieser holistische Ansatz akzeptiert, dass auf körperlicher Ebene physikalische, chemische und biologische Gesetze bestehen. Auf geistiger Ebene hingegen entwickelt der Mensch psychologische und intellektuelle Konzepte. Die Kräfte, die dem Menschen innewohnen, kämpfen dieser Sichtweise zufolge nicht selbständig gegeneinander. Körper und Geist werden als Einheit betrachtet.
Selbstverantwortung, Eigenkompetenz
Der Mensch ist ein Wesen, das Entscheidungen trifft. Sein Ziel ist, Kompetenzen zu entwickeln: Verantwortungsübernahme für sein Leben, für Arbeit, Liebe, das Zusammenleben mit der Natur, Kunst etc. und sich selber.
Jedes Leben zählt – Sinnhaftigkeit
Die Zweitrangigkeit von Tatsachen. Nicht die Tatsache selbst hat Vorrang, sondern das, was wir daraus machen. Der einzelne Mensch erscheint im Vergleich zu politischen, industriellen und sozialen Gegebenheiten sehr klein und unwichtig, jedoch wird eine Person, die von ihrem eigenen Wert überzeugt ist, im Leben immer eine wichtige Aufgabe finden. Schon Konfuzius sagte: „Jedes Individuum ist verantwortlich für den Aufstieg oder den Niedergang der ganzen Welt“. Albert Einstein schrieb, ein Mensch, welcher denkt, dass sein Leben sowie das seiner Mitmenschen bedeutungslos sei, ist nicht nur unglücklich, sondern empfindet sein Leben und auch das anderer als sinnlos.
Die freie schöpferische Kraft des Kindes
Die Individualpsychologie ist eine Psychologie zur praktischen Anwendung. Das Vorurteil, der Mensch sei ausschließlich ein Produkt seiner Vererbung und seiner Umwelt, scheint unausrottbar. Alfred Adler sprach von einer „dritten Kraft“ und nannte sie „die freie schöpferische Kraft des Kindes“. Es geht um die Frage, wie der Mensch sein Potential gebraucht.
Optimismus – nur auf das Gute sehen
Der Optimismus ist eine rational-emotionale Kraft, berechtigter und lebensbejahender als der Pessimismus. Die Erwartung des Guten wird verstärkt und letztendlich das Gute schneller erreicht. Dies wurde durch wissenschaftliche Studien bestätig, wie beispielsweise in der Forschung zum „Placeboeffekt“. Die Baha'i-Schriften fordern dazu auf:
Immer auf das Gute zu blicken und nicht auf das Schlechte. Wenn ein Mensch zehn gute und eine schlechte Eigenschaft hat, auf die zehn guten zu blicken und die eine schlechte zu übersehen. Und wenn ein Mensch zehn schlechte und eine gute Eigenschaft hat, auf die eine gute zu blicken und die zehn schlechten zu übersehen.
Abdu'l-Baha, Baha'u'llah und das neue Zeitalter
Freiheit von Vorurteilen, Vernunft, Selbsterkenntnis
Der Mensch wird als bewusstes Wesen gesehen. Das Streben, sich selbst und die Welt in einer komplexen Welt zu verstehen, ist unabdingbar. Der Mensch sollte sich um die Fähigkeit bemühen, das Wichtige vom Unwichtigen, das Richtige vom Falschen unterscheiden zu können. Er sollte sich nicht von Vorurteilen leiten lassen, sondern sich durch sein hehres Selbst und seine Vernunft steuern. Nach den Baha'i-Schriften:
Wahren Verlust erleidet, wer seine Tage in völliger Unkenntnis über sein wahres Selbst verbringt.
Baha'u'llah, Botschaften aus Akka
Präsident der Gesellschaft für Individualpsychologie
Die Anwendung der Individualpsychologie und sein unermüdlicher Einsatz in der Baha'i-Gemeinschaft bestimmten forthin Erik Blumenthals Leben. Er führte eine Praxis erst in Stuttgart, später am Bodensee. Daneben hielt er Vorträge und engagierte sich in der Deutschen und Schweizer Gesellschaft für Individualpsychologie. 1964 wurde er zum Präsidenten der Schweizer Gesellschaft gewählt und übte dieses Amt 22 Jahre aus; von 1970 bis 1974 war er auch Präsident der Deutschen Gesellschaft.
Freundschaft mit Rudolf Dreikurs
Ihn verband eine enge Freundschaft mit Rudolf Dreikurs. Im Chicagoer Dreikurs-Institut beendete er seine psychotherapeutische Ausbildung zum Lehranalytiker. Durch unzählige Vorträge und Seminare wurde er weit über die Grenzen Deutschlands bekannt. Er wurde zum Lehrbeauftragten der Universität Würzburg und der Universität Konstanz berufen, war als Dozent am Institut für angewandte Psychologie in Zürich tätig und 1973 Vizepräsident bei der Internationalen Gesellschaft für Individualpsychologie.
Differenzierungsfähigkeit lernen
Die Erkenntnis, dass für die Gesamtgesellschaft einerseits und für das zwischenmenschliche Miteinander andererseits unterschiedliche Regeln gelten, war für ihn sehr wichtig: Um Ärgernisse zu vermeiden zählt nicht, was die anderen tun sollten, sondern was man selbst tun kann. Der provokante Titel eines seiner Vorträge lautete beispielsweise: „Das Recht ist der Feind der Gerechtigkeit“. Darin klärte er über die Problematik des Rechthabenwollens auf. Die Menschen müssten sich in einer humanen Gesellschaft vom Schema des Oben und Unten lösen, um zu einem Zusammenleben gleichwertiger Partner zu kommen.
Freundschaft mit Adelbert Mühlschlegel
Die enge Freundschaft zu Adelbert Mühlschlegel, einem maßgeblichen Repräsentanten des Baha'i Glaubens, war ihm sehr wichtig. Zunächst war Erik Mitglied des Nationalen Geistigen Rates der Baha'i in Deutschland (1957), bis er zur rechten Hand von Dr. Mühlschlegel (1963) berufen wurde. Bei zahlreichen Baha'i-Ferienkursen in Europa hielt er Vorträge und leitete Seminare. 1968 ernannte ihn das Universale Haus der Gerechtigkeit, das höchste Gremium der Baha'i-Weltgemeinschaft, zu einem der ersten Berater für die europäische Baha'i-Gemeinde. Diese Aufgabe erfüllte er bis 1985.
Eltern- Kinder- (Selbst-)Erziehung: Neue Pädagogik
Zu Blumenthals unzähligen Veröffentlichungen gehörte auch das Buch „Wege zur Inneren Freiheit“ (1971). Es eröffnete eine umfangreiche Reihe an Büchern und Artikeln zur Selbst- und Kindererziehung. „Eltern und Kinder – Freunde oder Feinde?“. Geschrieben in Zusammenarbeit mit Dreikurs eröffnete es neue pädagogische Sichtweisen. Nicht Strafen, sondern Konsequenzen sollten Anwendung finden. Willkürliche Strafen verletzen die Seele eines Kindes, logische Konsequenzen hingegen kann ein Kind nachvollziehen.
Mit seinem therapeutischen Schaffen, Beratungen und Vorträgen hat Erik Blumenthal unzähligen Menschen dazu verholfen, die Welt positiver zu sehen und ihr mutiger gegenüberzutreten. Seine Bücher wurden in 14 Sprachen übersetzt. Nach einem erfüllten Leben verstarb Erik Blumenthal am 27. Juni 2004 im Alter von fast 90 Jahren.
Dr. Stefan Blumenthal ist Psychologe und Psychotherapeut. Er arbeitete jahrelang in der Forschung, um dann in der Psychiatrie sein Wissen in die Praxis umzusetzen. Er gehört dem Vorstand der Gesellschaft zur Förderung empirisch begründeter Therapieansätze bei schizophrenen Menschen an. Daneben führt er eine Privatpraxis.