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  • AutorenbildDeborah Clarke Vance

Wer bist du jenseits deiner Kultur?

Reisende möchten oft andere Kulturen kennenlernen und dazu landestypische Gerichte probieren, Kunst bewundern und an Festen teilnehmen. Denk darüber nach: Was ist an deiner Kultur einzigartig?


Verschiedene Kulturen sind wie Kaffeesorten

Stell' dir vor, fremdsprachige Freunde aus einem anderen Erdteil würden dich bitten ihnen zu zeigen, was deine Kultur am besten darstellt. Was würdest du dazu auswählen?


Ich könnte ihnen beliebte Events, Speisen und Orte, aber nicht „meine“ Kultur zeigen. Vielleicht, weil „unsere“ Kultur in uns selbst lebt, in unseren Einstellungen, Lebensphilosophien, Interessen oder geteilten Blickwinkeln, aus denen wir die Welt betrachten.


In den Baha'i-Schriften heißt es: „Die Wirklichkeit des Menschen ist sein Denken, nicht sein stofflicher Körper.“ (Abdu'l-Baha, Ansprachen in Paris). Diesem einfachen Satz können wir entnehmen, dass die Wirklichkeit selbst nicht körperlich, sondern geistig ist. Das gleiche gilt für die Wirklichkeit, die wir mit den Menschen um uns herum teilen, für unsere Kultur.


Als 19-jährige bin ich aus den USA in ein anderes Land ausgewandert mit der Absicht, für immer dort zu leben. Die Sprache und alles andere waren mir fremd. Selbst meine Vorstellung dessen, was „amerikanisch“ ist, unterschied sich von der der Menschen in diesem anderen Land. Ich war daran gewöhnt, mein Land als den Mittelpunkt des Universums zu empfinden - genauso wie sie das ihre.


All das verwirrte mich und in einer Meditation sah ich mich allein auf einer einsamen Insel aufwachsen. Wie konnte ich wissen, ob ich freundlich, großzügig, ehrlich oder sonstwas war, wenn ich mich mit niemandem darüber austauschen konnte? Ich spürte, dass ich tief in meinem Innersten dieselbe war wie immer und mir wurde klar, dass mein „Amerikanischsein“ einer Kleidung glich, die ich über meinem inneren Geist, meinem wahren Selbst trug.


Also begab ich mich auf den langen Weg, meine beiden Ichs zu korrigieren und in Einklang zu bringen - das Ich, das sich selbst als Amerikanerin sah und den Geist, der mein wahres Selbst darstellt. Die Baha'i-Schriften erklären, dass durch das Kommen eines neuen Gottesboten die Welt des Denkens erneuert wird und sich der menschliche Verstand, die Gedanken und der Geist des Menschen enorm weiterentwickeln.


Ich bin dankbar, dass ich noch vor dem Abschluss meines Studiums zu diesem Bewusstsein gelangt bin, denn es hat mir geholfen, unausgesprochene Annahmen in der Forschung aufzudecken - und in meiner eigenen Kultur zu erkennen.


Kultur kann als ein Universum gemeinsamer Bedeutungen angesehen werden. Innerhalb einer Kultur steht jedes Symbol zu jedem anderen in Beziehung und durchdringt alle Bereiche - wie wir denken, sprechen und uns verhalten. Kultur beinhaltet unsere Ideen, Verfahrensweisen, Erfahrungen, Glaubenssätze, Normen und die Einstellungen, die unser Benehmen formen. Kulturen sind nicht unempfindlich gegenüber Veränderungen, aber sie sind in sich geschlossen. Wie in einem Sprachlexikon, in dem sich alle Worterklärungen auf andere im selben Buch beziehen, so beziehen sich kulturelle Aspekte innerhalb einer Kultur aufeinander, in der Regel aber nicht auf Aspekte in anderen Kulturen.


Ein Beispiel: Der populäre Sport „American Football“ erfordert taktisches Geschick, Organisation, Kraft und Stärke. Er stellt einen Kampf zwischen Rivalen dar und zu den Veranstaltungen gehören Fahnenzeremonie und Nationalhymne. Wenn wir seine Bedeutung einschätzen (nein, er ist nicht „nur ein Spiel“), wird klar, wie dieser Sport den Glauben an Kraft und Stärke aufrecht erhält, Eigenschaften, die auch dem in der amerikanischen Kultur weitverbreiteten Männlichkeitsideal zugeordnet werden. Städte mit einer starken siegreichen Mannschaft werden positiv eingeschätzt, während die Städte der Verlierermannschaften bemitleidet werden. Fans beider Seiten glauben, sie würden zurecht an ihrer Mannschaft hängen - eine Überzeugung, die nicht selten in Prügeleien gipfelt. Diese Werte spiegeln sich in vielen Bereichen meiner amerikanischen Kultur wider ...


... und ähnliche Phänomene lassen sich auch in anderen Kulturen beobachten: Zentrale Normen und Werte einer Kultur durchdringen alle Bereiche des Zusammenlebens der Menschen, die sich ihr zugehörig fühlen. Könnten wir über die Grenzen unserer eigenen Kultur hinweg den Bezugsrahmen der anderen verstehen, würde uns das ein Universum gemeinsamer Bedeutungen eröffnen und wir könnten beginnen, andere Kulturen zu schätzen und zu würdigen.


Eine wichtige Rolle spielt dabei die Sprache. Wenn Menschen sich ohne Übersetzungshilfe unterhalten können, fällt nicht nur die Verständigung, sondern auch das Verstehen viel leichter. So verweisen die Baha'i-Lehren auf die Nützlichkeit einer Weltsprache: Neu geschaffen oder aus den bestehenden Sprachen ausgewählt könnte sie zusätzlich zur Muttersprache in aller Welt gelehrt werden, dadurch unsere Weltsicht bereichern und zur Friedenssicherung beitragen:


Die Verschiedenheit der Sprache ist eine der folgenreichsten Ursachen, die Abneigung und Misstrauen unter den Völkern hervorruft, da diese durch die Unfähigkeit einer sprachlichen Verständigung mehr als durch alles andere voneinander getrennt bleiben. Wenn alle eine Sprache sprächen, wie viel leichter ließe sich dann der Menschheit dienen!

Abdu'l-Baha, Ansprachen in Paris


Von Kindheit an lernen wir in der Familie, von Freunden, in der Schule oder durch die Medien unsere gemeinsame Geschichte sowie kulturelle Werte kennen und nehmen sie zumeist als Tatsachen hin, ohne sie zu hinterfragen. Als ich im Ausland lebte, traf ich zu meinem Erstaunen auf Menschen, die mich auslachten, weil ich mir die Zähne putzte. Sie sagten, sie hätten nie ihre Zähne geputzt und zeigten mir, wie makellos diese waren, im Gegensatz zu meinen, die viele Füllungen aufwiesen. Ihrer Ansicht nach lag das an der Qualität ihres Wassers. Ich jedoch komme aus einer Weltgegend, in der wir daran glauben, dass uns die Schulmedizin die Wahrheit über unsere Gesundheit sagt. Zu diesem und vielen anderen Themen könnte jeder von uns mit Beweisen aus unserer jeweiligen Kultur aufwarten, die unsere Annahmen untermauern, auch bei viel bedeutsameren Themen als bei Zähnen. Doch leider festigt schon allein die Tatsache, dass sich unsere Annahmen voneinander unterscheiden, häufig gegenseitig abwertende Vorurteile.


In den Baha'i-Schriften heißt es:

... die Wurzel des Vorurteils ist die blinde Nachahmung der Vergangenheit – die Nachahmung in der Religion, bei Einstellungen zu anderen Rassen, bei nationalen Vorlieben, in der Politik.

Die Boten Gottes kommen, um unser individuelles Denken zu erneuern und neu auszurichten. Baha'u'llah warnte ständig vor inhaltslosen Fantasien und eitlen Einbildungen - vor Gedanken ohne Verwurzelung in einer geistigen Wirklichkeit. Doch viele unserer ererbten kulturellen Überzeugungen, die unser kollektives Bewusstsein, unser System symbolischer Bedeutungen durchdringen, sind genau das: leere Ideen ohne Fundament. Das soll nicht heißen, dass alles, woran wir gemeinsam glauben, schlecht oder falsch ist, beileibe nicht! Wir sollten nur das blinde Nachahmen vermeiden:


Erhebt euch, o Menschen, und entschließt euch durch die Kraft der göttlichen Macht, den Sieg über euer Selbst zu erringen, damit die ganze Welt aus ihrer Hörigkeit vor den Götzen ihrer leeren Einbildungen erlöst werde.

Baha'u'llah, Ährenlese


Zu Beginn eines neuen religiösen Zyklus lernen diejenigen, die dem Gottesboten folgen, mit ihren eigenen Augen zu sehen und mit ihren eigenen Ohren zu hören. Das ermöglicht ihnen, sich von Vorstellungen zu lösen, die an ein körperliches Selbst gebunden sind. So können sie sich auf die Entwicklung ihres geistigen Selbstes konzentrieren.


Ich möchte ein Nachdenken darüber anstoßen, wie oft Menschen den Begriff „Identität“ für ihr körperliches Selbst gebrauchen, so als ob dessen Existenz außer Frage stünde. Wenn du dir vorstellst, jener einzige Mensch auf der einsamen Insel zu sein, kommst du vielleicht ähnlich wie ich damals zu dem Schluss, dass unser wahres Selbst von der körperlichen Welt unabhängig, unsere tatsächliche Identität geistig ist.


 

Deborah Clark Vance hat an der Howard University (Washington D.C., USA) in Interkulturellen Beziehungen promoviert und in verschiedenen Anthologien, Büchern und wissenschaftlichen Zeitschriften hierüber publiziert sowie bei einer pädagogischen TV-Serie mitgewirkt. Dieser Artikel erschien im Original auf bahaiteachings.org


Photo von Nathan Dumlao auf Unsplash


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