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  • AutorenbildAnne Gordon Perry

Die Kraft der Künste nutzen (Teil 1 von 2)

Als neunzehnjährige US-amerikanische Kreative habe ich in den frühen 1970er-Jahren die Baha'i-Religion kennen- und liebengelernt. Seither treibt mich die Sehnsucht um, für diese Liebe einen künstlerischen Ausdruck zu finden.


Kunst als Weg zur Kreativität


Im Laufe der Jahre habe ich mich in vielen Künsten geübt, darunter Poesie, Prosa, Theater, Tanz, visuelle Medien, Film, Glasbläserei, Buchproduktion und Schmuckdesign. Mein Mann und ich haben zwei abendfüllende Dokumentarfilme produziert: „Luminous Journey: Abdu’l-Baha in America, 1912“ und „Abdu'l-Baha in France“; noch vor Jahren hätte ich mir nicht vorstellen können, das zu schaffen. Diese Kunstaktionen haben unserem Leben sehr viel Sinn gegeben, besonders dann, wenn sie mit Gemeinschaftsaktivitäten und Unterstützung der Gemeinde einhergingen.


Studien über die Schnittstelle zwischen Kunst und Religion haben mich dazu bewegt, über Ästhetik zu promovieren. Im Laufe der Zeit durfte ich inner- und außerhalb der Baha'i-Gemeinde auf viele Gleichgesinnte treffen, die sich mit Kunstwissenschaften befassen oder sich als Maler, Musiker, Architekten, Kalligraphen sowie in anderen Künsten kreativ ausdrücken.


Sowohl als Teilnehmerin als auch als Organisatorin war ich in verschiedenen Kunst-Events, Konferenzen, Seminaren, Kursen, Festivitäten, Schreibgruppen usw. engagiert. Derzeit gehören mein Mann und ich dem Kunstausschuss unserer örtlichen Stadtverwaltung an und ich lehre an einem Kunst-College in Dallas/Texas (USA).


Mich auf den kreativen Weg zu begeben, hat also für reichlich Erfüllung gesorgt – allerdings auch für einiges Unangenehmes. Aber erst seit Kurzem habe ich das Gefühl, dass die Welt für die Kraft der Künste sensibler wird. In einer Verlautbarung des obersten, demokratisch gewählten Baha'i-Gremiums heißt es:


... muss anderen Prozessen, die darauf abzielen, das Leben einer Gemeinschaft ‎zu verbessern, mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden – zum Beispiel ‎durch die Besserung des Gesundheitswesens, den Schutz der ‎Umwelt oder des wirksameren Einsatzes der Kraft, die in den Künsten liegt.“
Das Universale Haus der Gerechtigkeit, Ridvan 2023

Wir alle wissen, dass zu diesem kritischen Zeitpunkt der weltweiten Entwicklung das Gesundheitswesen und der Umweltschutz zu den großen Herausforderungen der Menschheit gehören. Dem aber die Kraft der Künste als wesentlichen Aspekt zuzuordnen, ist eine aufregende Bestätigung dafür, wie lebenswichtig Kunst für die Zivilisation ist, die wir aufbauen. Das hat in mir einen grundlegenden Bewusstseinswandel bewirkt - den einige von uns bereits seit Jahrzehnten erwartet haben.


Kurz nach diesem Aufruf, die Baha'i sollten den Künsten ihre Aufmerksamkeit schenken, habe ich am Wilmette Institute online einen Kunstkurs gegeben. Normalerweise nehmen an so einem Kurs 10 -15 Studierende teil, aber diesmal hörten über 50 Menschen aus sieben verschiedenen Ländern zu. Viele von ihnen hatten sich zuvor als Künstler isoliert gefühlt. Sie waren erstaunt über die Fülle an Quellen, die uns zur Verfügung standen: Baha'i-Schriften, Artikel, Bücher, Podcasts, Videos, Filme und so weiter. Und gleichermaßen waren sie erstaunt darüber, dass es diese weltweite Gemeinschaft von Kreativen gibt, die sich auf der Kurs-Plattform über ihre Arbeit, Ideen und Ziele austauschen konnte.


Die befruchtenden Aspekte dieses Kurses erstaunten uns alle. Eine Teilnehmerin berichtete, dass sie sich tatsächlich nur wegen des Aufrufes des Universalen Hauses der Gerechtigkeit für den Kurs angemeldet hatte. Das war für mich ein ernstzunehmender Hinweis darauf, dass unter Künstlern, Kunstliebhabern und Gemeindemitgliedern der Wunsch wächst, mehr darüber zu lernen, wie die Künste genutzt werden können.


Indem wir die Freude am kreativen Ausdruck in seinen vielfältigen Formen und durch viele verschiedene Menschen erfahren, entsteht in uns eine andere, neue Wahrnehmung von Einheit. Die Konferenz der Gesellschaft für Baha'i-Studien, die kürzlich in Atlanta/Georgia (USA) stattfand, war durchdrungen von Kunst und zeichnete sich zugleich durch große ethnische Vielfalt ebenso wie Einheit aus. Wiederum hatte ich den Eindruck, dass das Bewusstsein der Teilnehmenden für die Kraft der Künste durch obigen Aufruf geschärft worden war.


Auch während der letzten Konferenz des Parlamentes der Weltreligionen in Chicago spielten Musik, Tanz, visuelle Kunst, Film und andere Formen der Kreativität eine große Rolle. Damit trugen sie zu einer Atmosphäre der Integration, des gegenseitigen Respekts, der Hoffnung und des Zusammenhalts bei.


Diese Betonung der geistigen Kraft künstlerischer Fantasie ist für Baha'i allerdings nicht neu:


Künste, Gewerbe und Wissenschaften erhöhen die Welt des Seins und tragen zu ihrer Vervollkommnung bei.

(...) der wahre Wert von Künstlern und Kunsthandwerkern sollte gewürdigt werden, denn sie bringen die Belange der Menschheit voran.
Textzusammenstellung zu den Künsten (Übersetzung der Redaktion)

An diesem Tag strahlt die Sonne fachlichen Könnens über dem Horizont des Westens, und ein Strom der Künste und Fähigkeiten fließt aus dem Meer jener Weltgegend. Man muss gerecht sein und solche Segnungen schätzen.
Baha'u'llah, Botschaften aus Akka (editierte Version der Redaktion)

Ähnlich wie die Religion zeichnen sich die Künste durch eine Erfahrungsdimension aus, die uns über die Verstandesebene hinaushebt und unsere Seele bewegen kann. Wir können Kunst oder Religion studieren und eine Menge über sie lernen – aber dadurch erleben wir nicht das Schöpferische jenseits der sichtbaren Welt. Wenn wir aber beides zusammenführen, das Studium UND die erhebende Ausübung/das Erleben von Kunst und Religion – dann öffnet sich vor uns eine neue Daseinswelt.


Mit Kunst können wir auf einzigartige Weise den Prozess der Kreativität erleben. Die Baha'i-Lehren bezeichnen das als eine Form des Gottesdienstes:


... nach den göttlichen Lehren ist der Erwerb von Wissen und die Vervollkommnung in den Künsten als Gottesdienst zu betrachten. Wenn ein Mensch sich mit ganzer Kraft müht, eine Wissenschaft zu erlernen oder sich in einer Kunst zu vervollkommnen, so ist es, als bete er Gott in Kirchen und Tempeln an.

Egal ob wir blutige Anfänger oder erfahrene Profis sind – das Ausüben von Kunst verändert uns. Als Menschen besitzen wir die Fähigkeit, einige der Attribute Gottes, also der Eigenschaften, die Gott zugeordnet werden, widerzuspiegeln. Dadurch können wir an der Kraft unseres Schöpfers teilhaben:


... das Wesen des Göttlichen, die Sonne der Wahrheit, scheint von allen Horizonten und ergießt ihre Strahlen über alle Dinge. Jedes Geschöpf ist Empfänger eines gewissen Anteils dieser Kraft ... Es steht geschrieben, dass [der Mensch] nach dem Bilde Gottes geschaffen ist. Er entdeckt verborgene Mysterien und bringt versteckte Geheimnisse ans Licht. Durch Wissenschaft und Kunst lässt er verborgene Kräfte ins Reich der sichtbaren Welt treten. Der Mensch erkennt die in den erschaffenen Dingen verborgenen Gesetze und arbeitet mit ihnen.

Die Baha'i-Schriften erwähnen viele verschiedene Künste und messen ihnen einen hohen Stellenwert bei. Aus der Fülle der Zitate zwei weitere Beispiele:


Musik ist eine göttliche Kunst und hat große Wirkung. Sie ist Nahrung für Seele und Geist. Die Macht und Anmut der Musik erhebt den Geist des Menschen. Sie hat wundersame Gewalt und Wirkung auf die Herzen der Kinder, denn ihre Herzen sind rein und Melodien bewegen sie sehr. Die verborgenen Talente, die in den Herzen dieser Kinder schlummern, werden durch das Mittel der Musik Ausdruck finden.

Ein Schauspieler erwähnte das Schauspiel und dessen Einfluss. „Das dramatische Schauspiel ist höchst bedeutsam“, sagte Abdu'l-Baha. „Früher hatte es große erzieherische Kraft, und diese wird es wieder erlangen.“

Aber warum ist es denn so wesentlich, zu diesem entscheidenden Zeitpunkt der Menschheitsgeschichte die Kraft der Künste zu nutzen? Vielleicht hängt das mit dem Aufbauprozess zusammen, den wir derzeit durchlaufen: Wir bauen eine Gemeinschaft auf, die ihre Schau über den eigenen Nabel erhebt und der Welt zuwendet. Der künstlerische Ausdruck verhilft uns dabei, kreative, verwandelnde und belastbare Eigenschaften wertzuschätzen und weiterzuentwickeln. Dadurch können wir den Reichtum menschlicher Vielfalt würdigen.


In Bezug auf den Zeitraum der Weltgeschichte, in dem wir aktuell leben, heißt es in den Baha'i-Schriften:


Jetzt ist das neue Zeitalter angebrochen, die Schöpfung wiedergeboren. Die Menschheit ist zu neuem Leben erwacht. Der Herbst ist vorüber, der belebende Frühling ist gekommen. Alles ist neu gemacht. Künste und Gewerbe sind wiedergeboren, es gibt neue Entdeckungen in der Wissenschaft und neue Erfindungen. ... Erneuerung ist an der Tagesordnung.

In diesem Licht betrachtet wirkt die Zukunft deutlich vielversprechender, als gemeinhin geglaubt. Angesichts der verheerenden Auswirkungen von Klima-, Umwelt- und Gesundheitskrisen und -problemen bietet der den Menschen innewohnende kreative Geist neue Möglichkeiten und Lösungen, die ihre organische Einheit und unendliche Vielfalt widerspiegeln. Könnte es sein, dass die Kraft der Künste uns auf unserem Weg überrascht, erfreut und vielleicht sogar verändert?


Fortsetzung folgt


 

Dr. Anne Gordon Perry hat in Ästhetik promoviert und lehrt am Kunstinstitut in Dallas/Texas (USA).


Dieser Artikel erschien im Original auf bahaiteachings.org und wurde von der Redaktion inhaltlich geringfügig modifiziert.


Photo generiert von GenAI


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