Ein Stoßgebet haben wohl viele schon mal „zum Himmel“ geschickt. Aber bewusst und regelmäßig beten für den geistigen Fortschritt meiner verstorbenen Eltern – warum?
Die bewusste Kontaktaufnahme mit unserem Schöpfer in Gebet und Meditation – für viele Menschen klingt das eher fremd. Wenn überhaupt, kommt das oft nur als Notanker in existenziellen Krisen vor. Dabei können Gebet und Meditation für unsere Seele das sein, was Wasser und Brot für den Körper sind: Grundnahrungsmittel.
Ebenso wie unser Körper, braucht auch unsere Seele gute, nein, beste Nahrung, davon bin ich überzeugt. Wenn wir unseren Körper vorwiegend mit Junkfood füttern, rächt sich die schlechte Behandlung früher oder später. Dass wir das dem Körper eigentlich nicht antun sollten, ist vermutlich unstrittig. Aber wie gehen wir mit unserer Seele um? Schließlich ist aus spiritueller Sicht unsere Körperlichkeit nur endlich, die Entwicklung unserer Seele dagegen auf Unendlichkeit angelegt - braucht sie dann nicht umso dringender hochwertige Nahrung?
Um die Seele zu nähren stehen uns unzählige Möglichkeiten zur Verfügung. Das Angebot ist riesig aber man sollte genau hinschauen, ob die Speise wirklich gesund ist und Kraft spendet.
Im Gebet wendet der Mensch sein Antlitz mit ganzem Herzen und mit ganzer Seele der Erhabenheit des Allmächtigen zu, sucht Seine Gemeinschaft und sehnt sich nach Seiner Liebe und Barmherzigkeit. Das größte Glück eines Liebenden ist, mit seinem Geliebten verbunden zu sein, und das größte Geschenk für den Sucher ist, mit dem Ziel seiner Sehnsucht vertraut zu werden.
Abdu'l-Baha, Göttliche Lebenskunst, 13:2
Von Abdu'l-Baha, Sohn des Stifters der Baha'i-Religion und von diesem zum Ausleger der Baha'i-Schriften bestimmt, gibt es viele Aussagen über den Stellenwert des Gebetes für unsere geistig-seelische Entwicklung. Dass er Kinder darauf hinweist, dass sie auch ihre Eltern geistig stützen können, halte ich für bemerkenswert: „O Herr! In dieser größten Sendung nimmst Du die Fürbitte der Kinder für ihre Eltern an.“
In allen Religionen wird zumindest ansatzweise die Existenz einer geistigen Welt beschrieben, in der die menschliche Seele nach dem Tod des Körpers weiterlebt. Wenn das Verhältnis ein gutes war, stellen sich Kinder beim Tod ihrer Eltern vielleicht die Frage, ob sie sich für die elterliche Liebe, Hingabe und möglicherweise erbrachte Opfer bedanken können. Vielleicht, indem sie aus Dankbarkeit und Liebe zur weiteren Entwicklung der elterlichen Seelen in der geistigen Welt beitragen?
Anderen Menschen könnte diese Frage sehr weit hergeholt erscheinen, vor allem, wenn sie von einer Begrenzung der menschlichen Existenz auf die materielle Welt ausgehen. Außerdem kann es vielen auch schwerfallen, rückblickend das elterliche Bemühen um richtiges Handeln gegenüber ihren Kindern zu erkennen, besonders, wenn es im Einzelfall tatsächlich kaum erkennbar ist.
Man kann kaum erahnen, welch schreckliches Leid Eltern durch schwerwiegendes Fehlverhalten bei ihren Kindern verursachen können. Menschen, die seit ihrer Kindheit mit solchen Belastungen umgehen müssen, verdienen tiefes Mitgefühl! Eltern werden in den Baha'i-Schriften nachdrücklich aufgefordert, die ihnen anvertrauten Kinder mit überreicher Liebe zu hegen und ihr Äußerstes zu tun „sie zu erziehen, damit sich ihr Wesen durch die Milch der Liebe Gottes entwickeln kann, denn es ist die Pflicht der Eltern, ihre Kinder vollkommen und sorgsam zu erziehen.“ (Abdu'l-Baha, Ziele der Kindererziehung)
Vorausgesetzt, man glaubt an die Existenz eines geistigen Lebens nach dem körperlichen Tod, könnte der zitierte göttliche Erziehungsauftrag zu folgender Überlegung führen: Was ist, wenn Eltern diesen Auftrag nicht erfüllen? Wie steht es um die Entwicklung ihrer Seelen in der geistigen Welt? Brauchen sie dann nicht ganz besonders die Unterstützung durch positive Gedanken oder durch Gebete? Wenn ihre Kinder das aus nachvollziehbaren Gründen nicht leisten können und auch sonst niemand das übernimmt, entgehen den Eltern-Seelen diese unschätzbar wertvollen geistigen Energien zur Entwicklung ihrer Seele in jener anderen Welt.
Abdu'l-Baha äußert sich entsprechend:
Nachdem der Geist vom Körper getrennt ist, macht der menschliche Geist in der göttlichen Welt entweder allein durch die Gunst und Gnade des Herrn Fortschritte, oder durch die Fürsprache und die Gebete anderer menschlicher Seelen oder durch großzügige Spenden und wohltätige Werke, die in seinem Namen dargebracht werden.
Abdu'l-Baha, Beantwortete Fragen
An anderer Stelle führt er aus:
So tragen auch Vater und Mutter unendlich viel Sorgen und Mühen um ihre Kinder; und kaum haben die Kinder das Alter der Reife erlangt, so gehen die Eltern oft schon in die andere Welt ein. Nur selten sehen Vater und Mutter in dieser Welt den Lohn der Sorgen und Mühen, die sie für ihre Kinder auf sich genommen haben. Darum müssen die Kinder zum Dank für diese Sorgen und Mühen fürsorglich und wohltätig sein und um Vergebung und Verzeihung für ihre Eltern flehen. So solltest du als Dank für die Liebe und Güte, die dir dein Vater* erwiesen hat, in seinem Namen den Armen geben, in tiefster Demut und Ergebenheit die Verzeihung und Vergebung der Sünden erflehen und um die höchste Gnade bitten.
Abdu'l-Baha, Einheit in der Familie
O Herr! In dieser größten Sendung nimmst Du die Fürbitte der Kinder für ihre Eltern an. Dies ist eine der besonderen, unendlichen Gnadengaben dieser Sendung. Nimm deshalb, o Du gütiger Herr, die Bitte Deines Dieners* an der Schwelle Deiner Einzigkeit an und lasse seinen Vater* versinken im Meere Deiner Gnade. Denn dieser Sohn* hat sich erhoben, Dir zu dienen, und müht sich unentwegt auf dem Pfade Deiner Liebe. Wahrlich, Du bist der Gebende, der Vergebende und der Gütige.
Abdu'l-Baha, Ein Leben getragen von Andacht und Gebet
Das obige Gebet von Abdu'l-Baha beschränkt die Fürbitte der Kinder für ihre Eltern jedoch nicht auf die Zeit nach deren Tod. Mutter und /oder Vater können demzufolge bereits zu ihren Lebzeiten „hier unten“ durch Fürbitte und Gebet ihrer Kinder gestärkt und unterstützt werden. (Wie natürlich auch Eltern für den seelischen Fortschritt ihrer Kinder beten können – und sollen.) Denn – wie der Bab schrieb – ein Jeder
sollte nach jedem Gebet Gott anflehen, seinen Eltern gnädig zu vergeben. Dann wird Gottes Ruf erschallen: „Abertausendfach sei dir gelohnt, was du für deine Eltern erbeten hast!“ Gesegnet, wer seiner Eltern gedenkt, wenn er mit Gott Zwiesprache hält.
In unserer stark materiell orientierten Welt sind solche Gedanken ungewöhnlich, für manche womöglich harte Kost, vielleicht erscheinen sie überflüssig oder aus der Zeit gefallen. Aber es gibt auch Menschen, die die Zwiesprache mit dem Schöpfer als wertvolle Seelennahrung betrachten. Sie können die Chance, beim Beten liebevoll ihrer Eltern (Großeltern, Ahnen ...?) zu gedenken und ihnen dadurch etwas Gutes zu tun, als tröstlich, hilfreich und befriedigend empfinden.
*Anmerkung: In den Baha'i-Schriften werden geschlechtsspezifische Bezeichnungen grundsätzlich austauschbar verwendet, also steht Vater für Mutter und Frau für Mann, Diener für Dienerin und Tochter für Sohn und alles auch umgekehrt. Welche Bezeichnung im Originaltext verwendet wurde, hing zumeist davon ab, an welchen Adressat das Schriftstück ursprünglich gerichtet war beziehungsweise welche Sachverhalte zur Ausgangsfrage geführt hatten. Die Baha'i-Lehren erklären, dass in der geistigen Welt vor Gott keine Geschlechterunterschiede existieren.
Wolfram Enders, Jahrgang 1948, verheiratet, drei Töchter und fünf Enkelkinder. 45 Jahre als Gesamtschul-Lehrer aktiv.
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