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AutorenbildBadi Shams

„Russians love their children too”

Stings Ballade nach 37 Jahren wieder erschreckend aktuell


Gegen Ende des kalten Krieges veröffentlichte der weltbekannte Musiker Sting die Ballade „Russians“ (1985), nachdem die westliche Angst vor den und der Hass auf die Russen seinen Höhepunkt erreicht hatte. Der Song erinnerte uns sanft an die grundlegende Tatsache, dass wir ungeachtet aller Nationalitäten oder Ideologien vor allem menschliche Wesen sind.


Haltet den Frieden der Welt nicht für ein unerreichbares Idealbild!

Seit Ende Februar 2022, als die russische Armee erneut die Ukraine angriff, wird diese Ballade wieder häufig zitiert und im Radio gespielt. Der Text beginnt mit den Worten „In Europa und Amerika wächst das Gefühl der Hysterie ...“, zitiert sowjetische Drohungen und westliche Reaktionen und gipfelt in den Zeilen:

Wir alle teilen dieselbe Biologie ungeachtet der Ideologie Was uns retten könnte, mich und dich ist, wenn auch die Russen ihre Kinder lieben
Sting, Russians

Teile des Textes beziehen sich zwar auf längst vergangene Ereignisse, aber die Botschaft bleibt frisch und eindeutig. Sie verweist auf die allgemeingültige Wahrheit, dass Eltern überall ihre Kinder lieben, sich um ihre Zukunft sorgen und Angst haben, sie zu verlieren.


Zu Zeiten des Kalten Krieges regierten Angst, Paranoia und Misstrauen. Demagogen schürten solche Ängste. Beispiel: US-Amerikaner verdächtigten Landsleute, sowjetische Spione zu sein oder zumindest mit Russland zu sympathisieren. In der sogenannten „McCarthy-Ära“ (1947-1956) verloren viele Künstler, die in Regierungsanhörungen der Sympathie mit dem Kommunismus „schuldig“ gesprochen wurden, ihre Arbeit – manche wurden sogar zu Gefängnisstrafen verurteilt. Die Verurteilungshaltung gegenüber allem, was als „kommunistisch“, „kommunistenfreundlich“, „sowjetisch“ oder „russisch“ galt, wirkt in Teilen der US-Gesellschaft bis in die Gegenwart nach. Ähnliches beobachte ich auch in anderen Teilen der westlichen Welt, vielleicht nicht so heftig, aber doch mit vergleichbarer Tendenz.


Heutzutage kochen dieser Hass und solche negativen Gefühle wieder hoch – vor allem wegen des zerstörerischen Krieges in der Ukraine. Westliche Massenmedien scheinen umfassend und detailliert zu berichten, vor allem über ukrainische Todesopfer und Bombardierungen. Was wir im Westen aber leider, wenn überhaupt, dann eher am Rande sehen, ist das Leiden auf der anderen Seite – beispielsweise das der Mütter und Väter gefallener russischer Soldaten, die nicht einmal wissen, was aus den Leichen ihrer Söhne geworden ist. Diese Soldaten wurden gezwungen, ihre Heimat zu verlassen, um in einem Krieg zu kämpfen, den sie höchstwahrscheinlich nicht wollten. Ihr Tod bricht ihren Eltern das Herz. Aber westliche Medien haben keinen Zugang zu diesen Soldaten oder ihren Eltern, so dass nicht über ihre Schmerzen und Qualen berichtet werden kann und das ist tragisch, denn „auch die Russen lieben ihre Kinder“.


Jeder Tod eines Menschen ist eine Tragödie. Egal ob es sich um Ukrainer, Russen, Amerikaner, Deutsche oder welche Staatsangehörigen auch immer handelt – die Grausamkeit des Krieges muss aufhören! In einer Baha'i-Ansprache in Paris erklärte Abdu'l-Baha bereits 1911:


... der Krieg wird geführt, um den menschlichen Ehrgeiz zu befriedigen. Um des weltlichen Gewinnes einiger weniger willen wird schreckliches Elend über ungezählte Heime gebracht und das Herz von Hunderten von Männern und Frauen gebrochen.
Wie viele Witwen trauern um ihre Gatten, wie viele Berichte über wilde Grausamkeiten werden laut! Wie viele verwaiste kleine Kinder schreien nach ihren toten Vätern, wie viele Frauen weinen um ihre erschlagenen Söhne! Nichts ist so herzzerbrechend und schrecklich wie ein Ausbruch der menschlichen Wildheit.
Abdu'l-Baha, Ansprachen in Paris

Wie lange wird es noch dauern, bis die Menschen begreifen, dass es weder Sieg noch Gewinn geben kann für diejenigen, die ihr Leben verlieren und die Familien, die um sie trauern und leiden? Es ist so unbeschreiblich erschütternd, dass ausgerechnet junge Menschen, die noch ihr ganzes Leben vor sich hätten, in jedem Krieg den höchsten Preis zahlen müssen.


Wie lange noch werden wir in unserer Kultur das Töten als sogenanntes „Heldentum“ in Filmen, Lieder, Romanen oder Computerspielen verherrlichen? Stattdessen sollten wir unsere Energie in die Entwicklung von Methoden und Programmen stecken, die den Menschen beibringen, Konflikte friedlich zu lösen. Gleichzeitig sollten wir unsere Regierungen dazu bringen, sich zu einigen, damit sie Aggressoren gemeinsam stoppen können.


Baha'u'llah, der Stifter der Baha'i-Religion, hat den Weg beschrieben, der zu diesem Ziel führt:

Die Zeit muss kommen, da die gebieterische Notwendigkeit für die Abhaltung einer ausgedehnten, allumfassenden Versammlung der Menschen weltweit erkannt wird. Die Herrscher und Könige der Erde müssen ihr unbedingt beiwohnen, an ihren Beratungen teilnehmen und solche Mittel und Wege erörtern, die den Grund zum Größten Weltfrieden unter den Menschen legen. Ein solcher Friede erfordert es, dass die Großmächte sich um der Ruhe der Völker der Erde willen zu völliger Aussöhnung untereinander entschließen. Sollte ein König die Waffen gegen einen anderen ergreifen, so müssen sich alle vereint erheben und ihn daran hindern. Wenn dies geschieht, werden die Nationen der Welt – außer für die Wahrung der Sicherheit ihrer Reiche und die Aufrechterhaltung der inneren Ordnung in ihrem Staatsgebiet – keine Waffen mehr brauchen. Dies wird jedem Volk, jeder Regierung und Nation Frieden und Ruhe sichern.
Baha'u'llah, Ährenlese

Wir können uns kaum vorstellen, wieviel Geld und Ressourcen gespart werden könnten, wenn die Nationen nicht mehr in riesige Waffenarsenale und Armeen investieren müssten. Würden wir unsere kriegerische Grundhaltung ablegen, könnten mit diesen Finanzmitteln so viele drängende Probleme gelöst, beispielsweise Krankheiten ausgemerzt, Armut überwunden – ja sogar die Auswirkungen des Klimawandels aufgefangen werden!


Neben den vielen Berichten über die Grausamkeiten des Ukrainekrieges können die Stimmen jener Menschen in Russland, die für Freiheit kämpfen, gegen diesen Krieg protestieren und für diesen Widerstand ins Gefängnis gehen, leicht überhört werden. Aber es gibt sie und sie sind wahrscheinlich viel mehr, als wir im Westen auch nur ahnen. Unsere Wut auf den grausamen Überfall der Ukraine durch die russische Armee sollte uns nicht dazu verleiten, „die Russen“ – egal ob das ganze Volk oder einzelne Menschen – für etwas zu verurteilen, das auf schrecklichen Entscheidungen einiger weniger beruht.


Grauenvolle Ereignisse wühlen naturgemäß tiefste Gefühle auf und aus Verzweiflung entsteht verständlicherweise sehr oft Hass und Ablehnung. Aber Hass und Ablehnung können niemals zu Freude und Zu-Frieden-Heit, geschweige denn Glück führen. Glücklichsein kann der Mensch nur, wenn es ihm rundrum gut geht. Solange an irgendeinem Körperteil eine offene Wunde eitert oder ein Organ durch eine Krankheit zerfressen wird, ist anhaltende Zufriedenheit unmöglich ...


... und da wir Menschen auf der Erde nichts anderes bilden als einen einzigen großen Körper, Menschheit genannt, können wir – jedes einzelne menschliche Wesen ebenso wie alle zusammen – nicht glücklich werden, solange einzelne Teile unseres Körpers – Völker und Nationen – leiden oder in Aufruhr sind.


Aber wie finden wir einen Ausweg aus dem Dilemma? Wie können wir jemals hoffen, Hass und Ablehnung zu überwinden?


In den Baha'i-Lehren finden sich sehr viele, sehr konkrete Hinweise dazu. Aus dieser Fülle seien an hier zwei Aspekte herausgegriffen: Gerechtigkeit und Liebe – mit Gottes Hilfe.


Aber NEIN, damit ist nicht gemeint, dass wir hoffen könnten, allein durch Nächstenliebe und Gebete den Weltfrieden zu sichern! Die Baha'i-Lehren rücken an dieser Stelle die Gerechtigkeit in den Mittelpunkt – für alle Beteiligten:

Keine Nation kann eine Friedenspolitik verfolgen, während ihr Nachbar kriegerisch bleibt … Darin liegt keine Gerechtigkeit. Niemand käme auf den Gedanken vorzuschlagen, der Weltfriede könne auf diesem Wege herbeigeführt werden. Er muss durch eine allgemeine, umfassende internationale Vereinbarung zustande gebracht werden und durch nichts anderes …
Abdu'l-Baha, zitiert in: Textzusammenstellung Frieden

Gerechtigkeit ist der Schlüssel zur Lösung unzähliger Probleme. Beispielsweise haben Hass und Ablehnung viel mit Vorurteilen zu tun. Es fällt leicht, Menschen abzulehnen, wenn man nicht sie selbst hört und sieht, sondern sie nur als Inhalt eines Paketes ansieht, auf dem ein Schild klebt: „Russe“ – „Amerikaner“ – „Deutscher“ – „Marsianer“ ... Aber es ist ungerecht, Menschen, egal ob einzelne oder ganz viele, mit dem gleichzusetzen, was man über „die Soundso“ zu glauben meint. Das sind Vor-Urteile. Gerechtigkeit verlangt hingegen, genau hinzusehen und auf Basis der Wirklichkeit zu denken und handeln ...


... und die erweist sich in den meisten Fällen als völlig anders, als Verzweiflung oder Hass uns glauben machen. Erinnern wir uns an „Romeo und Julia“ (Tragödie von William Shakespeare): Wäre Romeo nicht von seiner Verzweiflung verblendet gewesen, hätte er vielleicht bemerken können, dass Julia noch lebte und sich nicht umgebracht ...


Über die Gerechtigkeit sagt Baha'u'llah:

Von allem das Meistgeliebte ist Mir die Gerechtigkeit. Wende dich nicht ab von ihr, wenn du nach Mir verlangst, und vergiss sie nicht, damit Ich dir vertrauen kann. Mit ihrer Hilfe sollst du mit eigenen Augen sehen, nicht mit denen anderer, und durch eigene Erkenntnis Wissen erlangen, nicht durch die deines Nächsten.

Wenn wir in diesem Sinn versuchen, gerecht zu sein, werden wir nicht nur jeden Todesfall in der Ukraine betrauern, die Zerstörung des Landes und auch anderer Teile der Welt, sondern können uns auch dafür öffnen, mit den Müttern und Vätern der toten russischen Soldaten zu trauern, die starben, weil sie Befehle ausführten. Auch diese Eltern liebten ihre Kinder.


Womit wir bei dem zweiten der oben erwähnten Aspekte sind, der Liebe. Im Zusammenhang mit grauenvollen Kriegsgeschehnissen von „Liebe“ zu sprechen mag oberflächlich betrachtet weltfremd, naiv oder gar den Opfern gegenüber respektlos erscheinen. Aber wenn wir Gedanken an die Liebe gar nicht erst zulassen, berauben wir uns eines der mächtigsten Werkzeuge zur Friedenssicherung. Wie Abdu'l-Baha in der bereits oben zitierten Ansprache weiter ausführte:

Ich heiße euch alle und jeden von euch, alles, was ihr im Herzen habt, auf Liebe und Einigkeit zu richten. Wenn ein Kriegsgedanke kommt, so widersteht ihm mit einem stärkeren Gedanken des Friedens. Ein Hassgedanke muss durch einen mächtigeren Gedanken der Liebe vernichtet werden. Kriegsgedanken zerstören alle Eintracht, Wohlfahrt, Ruhe und Freude. Gedanken der Liebe schaffen Kameradschaftlichkeit, Frieden, Freundschaft und Glückseligkeit. ...
Haltet den Frieden der Welt nicht für ein unerreichbares Idealbild! Nichts ist für Gottes Güte unmöglich.
Wenn ihr von ganzem Herzen Freundschaft mit allen Völkern auf Erden wünscht, so werden sich eure Gedanken geistig und aufbauend verbreiten, sie werden zum Wunsche anderer werden, wachsen und wachsen, bis sie alle Menschen erreichen.
Verzweifelt nicht! Wirkt ständig! Aufrichtigkeit und Liebe werden den Hass besiegen. Wie viel ereignet sich in diesen Tagen, das unmöglich schien!
Abdu'l-Baha, Ansprachen in Paris

In der gegenwärtigen Weltlage kann man eines lernen und üben: dem Hass zu widerstehen. Sich stattdessen für Gerechtigkeit zu entscheiden. Wir können für den Frieden beten und uns daran erinnern, dass nicht jeder Deutsche ein Nazi war, nicht jeder Orientale ein Terrorist ist und nicht jeder Russe ein Kriegstreiber. Wie Baha'u'llah uns lehrt, hängen Einheit und Frieden dieser Welt davon ab, dass wir die Grenzen in unseren Köpfen überwinden und uns als Weltbürger fühlen.


 

Badi Shams' Hauptinteressensgebiet ist die Ökonomie. Er hat in diesem Feld die Bücher „Economics of the Future“ und „Economics of the Future Begins Today“ veröffentlicht und kürzlich die neuen Werke „Random Thoughts of a Mystic Economist“ und „Towards a New Spiritual Economic System“ verfasst. Badi's Webseite steht unter dem Titel „Baha'i Inspired Economics“ und enthält mehr als 400 Materialien zu diesem Thema. Er ist nach seiner beruflichen Laufbahn im Bildungssystem im Ruhestand und lebt auf Vancouver Island, wo er seine vielen verschiedenen Obstbäume pflegt.


Dieser Artikel erschien im Original auf bahaiteachings.org


Anmerkung der Redaktion: Mit Zustimmung des Autors wurde diese deutsche Übersetzung durch einige Erläuterungen ergänzt.


Photo von Alexander Grey auf Pexels

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