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  • AutorenbildPeter Gyulay

Meine Wahrheit, Deine Wahrheit – können wir sie miteinander teilen?

Mit der Wahrheit ist das so eine Sache. Nach ihr zu suchen fühlt sich oft an wie das Herumstochern im Nebel, in einer unscharfen Grauzone. Selbst im alten Griechenland glaubten manche Philosophen und Gedankenschulen nicht an die Möglichkeit, gesichertes Wissen über die Welt gewinnen zu können.


Wie können wir das was wir für die Wahrheit halten mit anderen teilen?

Viele glauben, dass jeder Mensch seine eigene Wahrheit hat und dass alle Wahrheitsbehauptungen gleichwertig sind. Ob es tatsächlich so etwas wie eine „objektive Wahrheit“ gibt oder nicht, ob sie bewiesen werden kann oder nicht, will ich hier gar nicht diskutieren. Lasst uns lieber über Folgendes nachdenken: Können wir das, was wir für die Wahrheit halten, mit anderen teilen und falls ja, wie?


Baha'u'llah, der Stifter der Baha'i-Religion, schrieb:

Wenn du eine Wahrheit erkannt hast und ein Juwel besitzest, das andere nicht besitzen, dann teile es mit ihnen in Worten größter Freundlichkeit und höchsten Wohlwollens. Wird die Wahrheit angenommen und erfüllt sie ihren Zweck, so ist dein Ziel erreicht. Weist jemand sie zurück, so überlasse ihn sich selbst und flehe zu Gott, dass Er ihn führe. Hüte dich, ihn unfreundlich zu behandeln.

Dieses Zitat gibt uns einige Hinweise darauf, wie man Wahrheiten miteinander teilen kann.


Erstens legt es uns nahe, dass wir unsere Ansichten tatsächlich mit anderen teilen sollten. Wenn wir glauben, einen bestimmten Aspekt im Leben verstanden zu haben, ist es besser, das anderen zu sagen, als es für sich zu behalten. Deshalb erzählen Baha'i anderen von ihrem Glauben – genauso, wie es jeder Mensch tun sollte, wenn er etwas Wissenswertes über die Realität herausgefunden hat.


Demokratisierung des Wissens


Zeitgenössische Gelehrte bezeichnen diesen Prozess als „Demokratisierung des Wissens“ und verweisen damit darauf, dass sich heutzutage Wissen schnell in allen Bevölkerungsschichten der Welt verbreitet, im Gegensatz zu früher, als es das Privileg von Akademikern, Geistlichen und Reichen war.


Man könnte sagen, dass Wahrheit einen Eigenwert hat. Aus diesem Grund widmeten Philosophen und Wissenschaftler seit tausenden von Jahren ihr Leben der Suche nach ihr und gefährdeten damit nicht nur ihren Besitz, sondern oft sogar ihr Leben. Also – WIE sollten wir dabei sinnvollerweise vorgehen?


Den obigen Worten Baha'u'llahs zufolge „in Worten größter Freundlichkeit und höchsten Wohlwollens“.


Eine Wahrheit freundlich mitzuteilen bedeutet, dass unser Ton und unsere Worte „sanft wie Milch“ (Baha'u'llah, Botschaften aus Akka) sein sollten, um aus einer anderen Aussage Baha'u'llahs über angemessene Redeweise zu zitieren. Deshalb bemühen sich Baha'i darum, andere nicht zu „bekehren“, also ihnen nicht den eigenen Glauben aufzuzwingen oder mit ihnen in Konfrontation zu treten.


Den Glauben nach Baha'i-Art teilen


Baha'u'llah fordert zu gerechtem Geben und Nehmen auf: Unser Gegenüber hat das Recht, von unseren Ansichten zu hören, ebenso wie das Recht, dass wir ihm richtig zuhören. Dabei dürfen keine Hintergedanken unsere Wahrheitsfindung beeinflussen – wir wollen im Gespräch weder eine andere Person besiegen noch ihre Meinung manipulieren. Die Baha'i-Schriften warnen uns vor energischem Durchsetzungswillen, egal wie sehr wir von der Richtigkeit unserer Anschauung überzeugt sind; stures Beharren auf dem eigenen Standpunkt gilt als schädlich für jeden Lösungsfindungsprozess. Wie oben zitiert, erwartet Baha'u'llah außerdem von uns, dass wir unsere Wahrheit zwar anbieten, das Gespräch aber beenden, falls unser Gesprächpartner nicht zuhören möchte, also unser Angebot zurückweist.


Auch hinsichtlich der Anwendung von Gewalt sind die Baha'i-Lehren eindeutig – Gewalt war niemals annehmbar zur Verbreitung des Glaubens:

Der Pfad zur Führung ist ein Weg der Liebe und des Mitleids, nicht der Gewalt und des Zwanges. Das war Gottes Weise in der Vergangenheit, und wird es auch künftig sein!

Während wir als Baha'i also die Wahrheit, so wie wir sie verstehen, sehr gerne mit anderen teilen, legen wir doch Wert darauf, dass jeder seine eigene Position findet. Abgesehen davon denken wir auch darüber nach, wie wir die Wahrheit sinnvoll vermitteln können. Baha'u'llah hat uns gleichermaßen zu Logik und Einfühlsamkeit verpflichtet: Zur verständlichen Darstellung unserer Botschaft sollen wir auf logische Beweisführung setzen. Gleichzeitig sollen wir uns bemühen, unsere Gesprächspartner zu verstehen und nur dann mit ihnen sprechen, wenn sie uns tatsächlich zuhören wollen.


Das zeigt eindeutig, dass Baha'i nicht versuchen, andere zu manipulieren. Wir sind keine Händler, die versuchen, mit Marketingtricks anderen etwas zu verkaufen und Profit daraus zu schlagen.


Stattdessen legen Baha'i Wert darauf, ein Verständnis für die Ausgangslage und Denkansätze der Gesprächspartner zu entwickeln. Jeder soll offen die eigene Auffassung vertreten können, du genauso wie ich. Bevor wir nicht den jeweiligen Hintergrund der Beteiligten verstehen, können wir keine gemeinsame Grundlage für einen gegenseitig bereichernden Austausch finden.


Glauben ohne auf etwas zu bestehen: Schluss mit dem Fanatismus


In einer Zeit, in der viele Gesellschaften von widerstreitenden Ansichten zerrissen scheinen, sind diese Methoden des Wahrheitsaustausches besonders wichtig. Um konstruktive Gespräche führen zu können, müssen wir die Schutzmauern abbauen, die wir um unsere Eigeninteressen errichten, und unsere Augen und Ohren für die Argumente der anderen öffnen.


Das bedeutet nicht, dass wir in allen Fragen unentschieden bleiben müssen. Wir können unsere Meinungen und Standpunkte beibehalten, aber wir brauchen Andersdenkende nicht zu Bösewichtern zu stempeln. Wir können zugleich unserer eigenen Überzeugung treu bleiben und verstehen, warum andere die ihre vertreten.


Das erhellt den großen Unterschied zwischen Gewissheit und Fanatismus. In beiden Fällen ist der Mensch überzeugt von der eigenen Weltsicht, aber der Fanatiker will diese Sicht anderen aufzwingen, sogar gegen deren Willen. Wenn wir dagegen unserer Überzeugung einfach nur gewiss sind, haben wir nach Wahrheit gesucht, glauben, sie gefunden zu haben und möchten sie mit anderen teilen – wobei entscheidend ist, dass wir das mit Freundlichkeit, Wohlwollen und der Bereitschaft tun, ihnen mit völliger Offenheit zuzuhören, wenn sie an der Reihe sind, ihre Wahrheit darzustellen.


 

Peter Gyulay (Sydney, Australien) beschäftigt sich mit nachhaltigem Leben und den tieferen Aspekten des Lebens. Als BA (Hons) in Philosophie sowie M.Ed. (Lehramtsstudium) arbeitet er in den Bereichen Bildung und philosophische Beratung. Mehr von Peter hier: https://www.thinktalktransform.com/ und https://www.petergexpressions.com/


Dieser Artikel erschien im Original auf bahaiteachings.org und wurde von der Redaktion leicht editiert.


Photo von Liza Summer auf Pexels

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